Auch unsere Presse lässt uns im Stich. Ein paar Anregungen für Journalisten.

Opa Köbi
5 min readDec 30, 2020
Medienkonferenz des Bundesrates vom 18. Dezember 2020

Wenn Task-Force-Leiter Ackermann an den Pressekonferenzen jeweils verzweifelt versucht, Fragen nicht zu beantworten und nicht zu sagen, was er wirklich denkt, erinnert mich das ein bisschen an Nordkorea. Tausende Menschen sterben in der Schweiz, Zehntausende werden an Langzeitfolgen leiden und unsere Wissenschaftler müssen sich vor allem darum sorgen, unsere Bundesräte nicht zu verärgern mit Fakten und ehrlichen Einschätzungen.

Kann uns wenigstens die Presse retten mit kritischen Fragen? Leider nein. Fragen an Pressekonferenzen sind typischerweise ganz zahm. Meist geht es um Nachfragen zu Details irgendwelcher Massnahmen, ohne jegliches kritisches Hinterfragen. “Also kann ich jetzt diesen Sonntag schon wieder Gipfeli kaufen beim Beck oder erst eine Woche später?” — derartige Fragen sind unterdessen Standard.

Ich würde mir Journalistinnen und Journalisten wünschen, die mitdenken, kritische Fragen stellen, unsere Politiker auch zur Verantwortung ziehen. Und sie zwingen, ihre Entscheide zu erklären und zu rechtfertigen. Ein Bundesrat, der weiss, dass er mit kritischen Fragen rechnen muss, wird sich seine Entscheide und Abwägungen genauer überlegen. Und sicherstellen, dass er sie gut erklären kann. Die blosse Erwartung kritischer Fragen würde also bereits zu besseren Entscheiden führen. Und Deals hinter verschlossenen Türen schwieriger machen, die nicht im Interesse der Bevölkerung sind.

Ich teile hier ein paar Anregungen für die Art von Fragen, die an Pressekonferenzen gestellt werden könnten. Falls man damit als Journalistin nicht riskiert, sich zukünftigen Zugang zu verspielen. Oder gibt es noch schlimmere Strafen zu befürchten? Ich würde gerne besser verstehen, was die Journalisten von kritischen Fragen abhält.

Fragen zum Warum

Anstatt Entscheide einfach zu akzeptieren und fleissig Notizen zu machen, könnte man nachfragen, welche Überlegungen hinter diesen Entscheidungen stecken. Welche Daten wurden berücksichtigt? Welche Perspektiven wurden einbezogen? Welche Alternativen wurden evaluiert? Welche Abwägungen wurden getroffen? Wie wurden Schwellenwerte festgelegt?

Beispiel: “Welche Überlegungen stecken hinter der Restaurantschliessung um 19:00 Uhr? Weshalb nicht 20:00 oder 18:00 Uhr? Welche Faktoren wurden hier berücksichtigt?”

Fragen zu Erwartungen

Massnahmen, die der Bundesrat ergreift, sind hoffentlich mit Erwartungen verbunden. Er wird — so hoffe ich zumindest — ein Ziel vor Augen haben, das mit diesen Massnahmen erreicht werden soll. Dazu könnte man ein paar Fragen stellen. Und dann später auch wieder nachfragen, wenn sich diese Erwartungen nicht erfüllen.

Beispiel: “Was erwartet der Bundesrat zu erreichen durch Restaurantschliessungen um 19:00 Uhr? Wie wird sich diese Massnahme auf welche Kennzahlen auswirken? Worauf basieren diese Annahmen?”

Fragen zu Szenarien

Der Bundesrat scheint jeweils Massnahmen zu ergreifen, ohne genau zu wissen, was er von ihnen erwartet. Und dann wartet er ab und beobachtet. Aber es scheint keine vorausschauende Planung zu geben. Man könnte sich ja schon heute überlegen, was wir tun würden, wenn bestimmte Szenarien eintreten. So könnten wir später rascher reagieren, weil ein Grossteil der Arbeit schon gemacht wurde.

Beispiel: “Die Taskforce empfiehlt, einen R-Wert von 0.8 zu erreichen, was einer Halbierung der Fallzahlen alle zwei Wochen entspricht. Was plant der Bundesrat zu unternehmen, falls wir dieses Ziel nicht erreichen?”

Fragen nach Verpflichtungen

Bei den Themen, die grösstenteils in der Kontrolle des Bundesrates (und der Kantonsregierungen) liegen, könnte man auch nach Verpflichtungen fragen. Bei einigen Themen ist die Schweiz unglaublich langsam und schockierend inkompetent. Die Kontaktverfolgung gehört dazu. Bei der Impflogistik scheint es nun ähnlich schlecht zu laufen.

Bei diesen Themen könnte man den Bundesrat fragen, bis wann er denn Fortschritt erwartet. Nennt er ambitionierte Ziele, so kann man später nachhaken und fragen, wo wir unterdessen stehen. Und wenn Antworten vage bleiben mit langen oder unsicheren Zeiträumen oder der Bundesrat gar nicht erst auf die Frage eingeht, dann wissen wir wenigstens, dass er entweder keine Ahnung hat vom Thema oder bereits aufgegeben hat.

Beispiel: “Bis wann hat die Schweiz ein zuverlässiges, digitalisiertes Contact Tracing, das auch kantonsübergreifend funktioniert?”

Vergleiche mit anderen Ländern

Die Schweiz ist leider sehr auf sich selbst fokussiert. Man könnte auch mal etwas über den Tellerrand hinausschauen und zwar nicht nur bis zu den unmittelbaren Nachbarländern. Wir können unterdessen die sehr verschiedenen Ansätze, Massnahmen und Resultate diverser Länder miteinander vergleichen. Und ja, die haben teilweise andere Voraussetzungen, andere geographische Gegebenheiten, andere politische Systeme, andere Kulturen. Diese Unterschiede machen die Erfahrungen aber nicht völlig wertlos.

Beispiel: “Die Fallzahlen in Grossbritannien steigen wegen der neuen Mutation rasant an und die britische Regierung ergriff strengere Massnahmen. Diese neue, deutlich ansteckendere Variante wurde unterdessen auch in der Schweiz nachgewiesen. Erwartet der Bundesrat bei uns eine andere Entwicklung der Fallzahlen? Erwartet der Bundesrat, dass wir die Verbreitung mit deutlich lockereren Massnahmen als in Grossbritannien werden kontrollieren können? Weshalb? Was ist bei uns anders?”

Fragen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen

Einige wissenschaftliche Erkenntnisse, die weltweit schon seit Monaten bekannt sind, scheinen die Diskussion in der Schweiz nur sehr langsam zu erreichen. Hier könnte die Presse etwas nachhelfen und sowohl unsere Politiker als auch die Schweizer Bevölkerung schneller auf den neuesten Stand bringen. Das würde erfordern, dass man auch den Diskurs in anderen Ländern verfolgt und ein Auge hat auf aktuellste Forschungsergebnisse. Bei der Wirksamkeit von Masken, bei den Aerosolen und bei der Rolle von Kindern und Schulen hinkte die Schweiz leider immer einige Monate hinterher.

Beispiel: “Diverse Forschungsergebnisse aus mehreren Ländern zeigen deutlich, dass Abstand in Innenräumen nicht ausreicht, um Ansteckungen zu verhindern, weil sich das Virus auch über Aerosole verbreitet. Plant der Bundesrat neue Empfehlungen an die Bevölkerung und die Überarbeitung von Schutzkonzepten, um diese Tatsache zu berücksichtigen und die Menschen besser zu schützen?”

Hinterfragen von Pauschalaussagen

Unsere Bundesräte machen gerne Pauschalaussagen mit teilweise stumpfsinnigen Floskeln. “Die Schweiz musste ihren eigenen Weg gehen.” — Was heisst das? Weshalb mussten wir einen eigenen Weg gehen? Was hat uns dazu gezwungen? Weshalb konnte die Schweiz nicht tun, was andere Länder erfolgreich gemacht haben? Frau Sommaruga, könnten Sie das bitte genauer erklären?

“Der Schweizer Weg stimmt für mich.” — Was heisst das, Herr Maurer? Sind Sie zufrieden mit der Anzahl der Todesfälle? Sind die bedrohten Existenzen im Gastgewerbe, den Künsten, usw. in Ordnung für Sie? Wollen Sie sagen, wenn Sie zurückgehen könnten, würden Sie alles wieder genau gleich machen?

Beispiel: “Sie sagen, die Schutzkonzepte hätten funktioniert, obwohl die Infektionszahlen weiterhin ansteigen. Wie kommen Sie zu dieser Aussage? Auf welchen Daten basiert sie?”

Nachhaken

Wenn Politiker Fragen nicht beantworten und abschweifen, darf man auch mal nachhaken. “Dann müssen wir schauen.” ist auch keine hilfreiche Antwort. Hier könnte man zurückkommen und nötigenfalls die Originalfrage einfach nochmal wiederholen.

Als Bundesrat Berset Daniela Lagers Frage ignorierte und stattdessen über Österreich sprach, hätte sie zum Beispiel sagen können “Lassen Sie mich nochmal zum Thema der Abwägung zurückkommen. Was haben wir gewonnen mit den über 6’000 Toten?”.

Zurückblicken

Man könnte auch zurückblicken auf frühere Aussagen der Bundesräte und sie fragen, wie sie diese rückblickend beurteilen und was sie seither für die aktuelle Situation gelernt haben.

Beispiel: “Sie sagen, wir seien im Sommer zu locker gewesen. Was hätte Sie damals überzeugt, weitere Massnahmen zu ergreifen? Was würde es heute tun?”

Die Aufgabe der Presse ist nicht nur die Weitergabe von Informationen. Und es ist auch nicht nur das Darstellen der Positionen verschiedener Interessengruppen. Viele Artikel der letzten Monate waren zusammengefasst schlicht “Die einen wollen dies, die andern wollen das.”.

Ich würde mir mehr kritisches Hinterfragen wünschen. Stärkere Auseinandersetzung mit der Wissenschaft. Und einen Zeithorizont von mehr als ein paar Tagen. Man könnte sowohl zurückschauen als auch vorwärtsblicken, über mehrere Monate. Sonst sehen wir den Wald vor lauter Bäumen gar nicht mehr.

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Opa Köbi

Ich mach mir halt so meine Gedanken. Aktuell zu COVID-19 und den Reaktionen insbesondere in der Schweiz. https://twitter.com/OpaKoebi