Nach bald einem Jahr COVID-Epidemie diskutieren wir weiterhin Details einzelner Massnahmen. Soll das Restaurant um 22 Uhr oder um 23 Uhr schliessen? Und wie viele dürfen am selben Tisch sitzen? Sollen sich 5, 10 oder 15 Leute treffen können?
Mir fehlt eine Diskussion mit einem weiteren Blickwinkel. Was ist unser grundsätzlicher Ansatz? Welche Ziele verfolgen wir — und das mit einem Horizont von mehr als ein paar Wochen? Wie erwarten wir, dass sich die Lage weiterentwickelt über die kommenden Monate?
Ich versuche, grundsätzlich verschiedene Ansätze in vier Archetypen zusammenzufassen. Ich verzichte auf Begriffe wie “Unterdrückung” oder “Eindämmung”, da die jeder etwas anders versteht. Daher die vier Wege, weil dieses Wort gerade so beliebt ist:
- Der erste Weg: Nichtstun
- Der zweite Weg: Ein Lockdown nach dem anderen
- Der dritte Weg: So wenig wie möglich
- Der vierte Weg: So viel wie nötig
Der erste Weg: Nichtstun
Bereits bevor die erste Welle im Frühling Europa erfasste, haben einige Politiker, aber auch Ärzte und Epidemiologen lauthals empfohlen, als Reaktion schlicht gar nichts zu tun. Einfach weiterhin unser Leben führen wie zuvor. Sie können zwei Hauptgruppen zugeordnet werden: Die Verharmloser und die Güterabwäger.
Die Verharmloser halten COVID-19 für unbedenklich, nicht gefährlicher als eine normale Grippe. Jegliche Massnahmen würden mehr schaden als das Virus selbst. “Die Hysterie tötet! All diese Tests sind völlig bedeutungslos und schaffen nur Panik.”
Die Güterabwäger halten das Virus nicht unbedingt für ungefährlich, ja rechnen sogar damit, dass viele Menschen sterben werden. Aber diese Toten sind ein kleiner Preis, wenn dafür die Wirtschaft in Gang gehalten werden kann. “Durchseuchung kommt sowieso, bringen wir das hinter uns. Die Schwachen sterben halt. Wir müssen uns in erster Linie um die Wirtschaft sorgen!”
Unterdessen wissen wir, dass beide Gruppen falsch liegen. COVID-19 ist etwa zehnmal tödlicher als eine Grippe. Hinzu kommt noch, dass unter denen, die die anfängliche COVID-Infektion überstehen, viele an Langzeitfolgen leiden. Das gibt’s so bei der Grippe nicht.
Und helfen die vielen Toten der Wirtschaft? Nein, der Wirtschaft in Ländern mit vielen Toten ergeht es nicht besser. Machen volle Intensivstationen und Rekordzahlen an Toten ein Land für Touristen attraktiver? Nein, das auch nicht. Sogar Veranstaltungen wie das WEF überlegen sich nun, der Schweiz den Rücken zu kehren. Zudem sind nicht nur die Alten und Schwachen betroffen, 40% der Patienten auf Intensivstationen in der Schweiz sind unter 60.
Können wir die realen Folgen dieses Weges irgendwo beobachten? Mir sind keine Länder bekannt, die an diesem Weg festgehalten haben. Einige haben es anfangs versucht (Grossbritannien und Schweden zum Beispiel), aber alle haben diesen Weg früher oder später aufgeben müssen, zu viele starben.
Den USA fehlt eine nationale Strategie, daher kommen die Entwicklungen dort diesem Weg vielleicht am nächsten. Aufgrund lokaler Massnahmen (die teilweise sehr streng sind) in einzelnen Bundesstaaten kann man annehmen, dass tatsächliches Nichtstun noch zu deutlich höheren Todeszahlen geführt hätte (bisher sind über 270'000 gestorben). Zudem passen weite Teile der Bevölkerung ihr Verhalten auch an, wenn offizielle Vorgaben ausbleiben. Vollständiges Nichtstun werden wir daher kaum beobachten können.
Der zweite Weg: Ein Lockdown nach dem anderen
Dieser Weg wählt einen harten Lockdown von wenigen Wochen und öffnet anschliessend alles wieder, wenn die Fallzahlen wieder tief sind. Wie ein grosser An/Aus-Schalter für das öffentliche Leben, der nur zwei Positionen kennt. Nach dem Lockdown wird alles überall wieder geöffnet, als existiere das Virus gar nicht. Nach einigen Wochen oder im besten Fall sogar Monaten des unbeschwerten Lebens explodieren die Fallzahlen wieder. Ein nächster Lockdown folgt. Und so wiederholt sich das, bis zur Impfung.
Die Lockdowns sind sehr schmerzhaft für Wirtschaft und Gesellschaft. Es sterben auch jeweils viele nach jeder Spitze der Ansteckungswellen. Aber wenigstens haben wir zwischendrin auch ein paar unbeschwerte Wochen.
Eine Variante dieser Strategie macht keine harten Lockdowns, sondern nur halbherzige. So dauert es dann länger, bis die Fallzahlen runterkommen. Und sie tun dies deutlich langsamer. Der Schmerz für Gesellschaft und Wirtschaft ist etwas kleiner, dafür hält er länger an. Und unbeschwerte Zeiten gibt es überhaupt keine mehr, denn die Fallzahlen können nie genug reduziert werden. Die Zeiten zwischen den Spitzen sind zudem kürzer. Und Kontaktverfolgung bleibt dauerüberlastet und kann daher ihren Zweck nicht erfüllen. Die Spitäler sind durchgehend gefordert. Sie wechseln ab zwischen Stress und Riesenstress.
So einen Verlauf plant vermutlich kein Land. Aber trotzdem scheinen einige in diesem Muster zu laden. Geschieht das nun auch mit der Schweiz?
Der dritte Weg: So wenig wie möglich
Dieser Ansatz predigt, so wenig wie möglich zu machen, wiederum für die Wirtschaft. Wann ist wenig zu wenig? Wenn keine Betten mehr verfügbar sind auf den Intensivstationen.
Weshalb die Kapazität der Intensivstationen das Mass aller Dinge ist, habe ich noch nie verstanden. Würden wir doppelt so viele Menschen sterben lassen, wenn wir doppelt so viele Intensivbetten hätten? Und weshalb ist die Intensivstation so zentral? Ist ein Tod auf der Intensivstation in Ordnung, aber einer ausserhalb der Intensivstation nicht?
“Aber wir müssen doch die Gesundheitsversorgung sicherstellen. Wir müssen alles tun können, um zu versuchen, Menschenleben zu retten.”. “Alles” scheint in diesen Argumenten beschränkt zu sein auf “alles, was nicht den klitzekleinsten Beitrag von mir persönlich verlangt”.
Befürworter dieses Weges scheinen sich mit einem Szenario abzufinden, in welchem die Intensivstationen über Monate fast komplett ausgelastet sind. Einige sehen darin sogar den Optimalfall: Je weniger freie Betten, desto besser wird optimiert. Dieser Ansatz ist absurd und würde in kaum einer anderen Gesundheitsfrage akzeptiert. Stellen wir uns zum Beispiel vor, wir würden alle Verkehrsregeln und Gurtentragpflicht aufheben, solange die Intensivstationen nicht voll sind.
Diese Strategie geht zudem von der Annahme aus, dass wir die Anzahl der täglichen Neuansteckungen mit einer Kombination von Massnahmen gezielt konstant halten können — wenn wir das wollen. Also die Reproduktionszahl zuverlässig bei eins halten. Wenn wir das können, weshalb würden wir dann zuwarten und das erst bei hohen Fallzahlen tun? Weshalb halten wir Fallzahlen nicht konstant, wenn sie tief sind? Die wirtschaftlichen Kosten der Massnahmen wären bei tiefen Fallzahlen ebenfalls tiefer. Und Tausende Schweizerinnen und Schweizer müssten nicht leiden oder gar sterben.
Kein Land scheint diesen Weg als offizielle Strategie zu verkünden. Aber einige nehmen es vielleicht in Kauf, dass sich die Dinge so entwickeln könnten. Gehört die Schweiz dazu?
Der vierte Weg: So viel wie nötig
Dieser Ansatz hat zum Ziel, Neuansteckungen möglichst tief zu halten und das zu tun, was dafür nötig ist. Wenn die Fallzahlen steigen, auch auf tiefem Niveau, müssen Massnahmen sofort verschärft werden, um eine Ausbreitung im Keim zu ersticken.
Bei tiefen Fallzahlen ist das mit Massnahmen möglich, die nur für die wenigen Infizierten und deren Kontakte einschneidend sind. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung kann ihr Leben fast normal führen, mit ein paar wenigen Einschränkungen wie Maskentragen und Verzicht auf Grossveranstaltungen. Tiefe Fallzahlen kann man leichter im Griff behalten, Testresultate sind schneller verfügbar und Kontakte können systematisch verfolgt werden — rückwärts und vorwärts. Die Dunkelziffer bleibt ebenfalls gering.
Nach dem Lockdown im Frühling hätte die Schweiz diesen Weg wählen können. Aber das war uns zu mühsam. Lieber überall wieder öffnen und so tun, als wäre alles vorbei.
Wir hätten auch in Infrastruktur für Tests und Kontaktverfolgung investieren können, denn die ist essentiell für diese Strategie. Aber auch dies war zu mühsam. Die Sorge dominierte, zu viel zu tun. “Wer soll das auch alles bezahlen?”
Den Preis für diese Versäumnisse bezahlen wir nun mit der zweiten Welle.
Dass dieser Weg funktioniert, beweisen Länder wie Neuseeland, Australien, Taiwan, Vietnam, Südkorea. Das Leben dort verläuft fast normal, was nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für Gesellschaft und Wirtschaft von Vorteil ist.
Die Schweiz hat es verpasst, diesen Weg zu wählen, als es vergleichsweise einfach und billig war. Wir können immer noch umschwenken auf diesen Weg, aber das würde nun einen konsequenten Lockdown verlangen, nach welchem wir neu starten könnten. Der Wille dazu scheint nicht vorhanden zu sein. Wir stecken fest in einer “sunk cost fallacy”. Wir haben schon so viel geopfert für den aktuellen Weg. Wenn wir jetzt einen harten Lockdown machen, würden wir ja zugeben, dass wir das besser schon vor ein paar Wochen hätten machen sollen.
Was ist nun also der “Schweizer Weg”? Ein Kompromiss, weder Fisch noch Vogel. Eine Eigenart des Schweizer Weges ist, dass er sich nur rückblickend verstehen lässt. Wer sich auf dem Schweizer Weg befindet, weiss nicht, wo er hinführt. Der Schweizer Weg hat keine Erwartungen, keine Szenarien, keine Pläne, wohin es unter welchen Umständen als nächstes geht. Der Schweizer Weg wartet ab und hofft. Und wenn wir uns dann hoffnungslos verirren, nicht genau wissen, wo wir sind und wie es weitergehen soll, dann sagen wir “Unser Weg stimmt für mich.”. Selbstzufriedenheit und Rechtfertigung gleichzeitig, ohne auszudrücken, worüber man denn jetzt zufrieden ist oder was man denn rechtfertigt.