“Die Experten liegen immer falsch. Das muss jetzt Konsequenzen haben!”
Die Virologen und anderen Wissenschaftler müssen sich viel gefallen lassen. Von verschiedenen Seiten wird ihnen Panikmache vorgeworfen. Falsch gelegen seien sie mit ihren Horrorszenarien. Corona-Skeptiker fordern neben Konsequenzen, Klagen und Knast auch eine Reihe kreativerer (und teilweise äusserst brutaler) Strafen für Ackermann, Althaus, Eckerle, Drosten & Co.
Die Wissenschaft lernt ständig dazu. Unser Verständnis über die Zeit zu verfeinern, ist Kernaufgabe der Wissenschaft. Dazu gehört auch, dass man bisherige Erkenntnisse verwirft, wenn neue Daten sie in Frage stellen. Bei den Hauptempfehlungen der Wissenschaft in den vergangenen Monaten war dies jedoch nicht der Fall.
Kritiker behaupten auch oftmals, wir sollten nicht einseitig auf die Virologen und Epidemiologen hören und müssten auch die Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft im Auge haben und Abwägungen treffen. Solche Aussagen sind irreführend. Erstens berücksichtigen die Viren-Experten in ihren Empfehlungen insbesondere auch Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft. Und zweitens machten Wissenschaftler über mehrere Disziplinen hinweg dieselben Empfehlungen (so zum Beispiel auch 60 Ökonomen in diesem offenen Brief) — weil diese sowohl für Gesundheit, Gesellschaft als auch Wirtschaft wichtig waren. Es gibt keine Konflikte zwischen diesen drei Bereichen. Mit der richtigen Strategie profitieren alle.
Eine Übersicht der zentralen Empfehlungen und Prognosen der Wissenschaft — und eine Einschätzung, wie zutreffend sie waren:
Investieren in Testen und Kontaktverfolgung
Bereits im Mai, nach dem Lockdown der ersten Welle, empfahl die Science Task Force, Infektionen niedrig zu halten und dafür in Testen und Kontaktverfolgung zu investieren (Dokument):
Sie erklärte: “Ziel der Strategie ist es, die Anzahl neuer Infektionen jederzeit niedrig zu halten. Eine niedrige Fallzahl ist die effektivste und für die Wirtschaft und Gesellschaft zuträglichste Art, die SARS-CoV-2 Epidemie in der Schweiz unter Kontrolle zu behalten.”
Und die Task Force empfahl “Intensivierung gezielter Massnahmen, um erfolgte Infektionen rasch feststellen und Übertragungsketten unterbrechen zu können. Diese gezielten Massnahmen beinhalten Testen, Kontaktverfolgung, Isolieren, Quarantäne und andere Mittel der gezielten Intervention.” sowie “Die Kapazitäten für die Kontaktverfolgung müssen ausgebaut werden, um eine konsistente und schnelle Verarbeitung zu ermöglichen und auf steigende Fallzahlen rasch reagieren zu können.”. “Alle identifizierten Kontaktpersonen müssen auf SARS-CoV-2 getestet werden und sollten sich in Isolation oder Quarantäne begeben.”
Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass nur ganz wenige von Massnahmen betroffen sind. Ein Grossteil der Bevölkerung kann ihr Leben fast normal führen, mit gelegentlichem Maskentragen und Verzicht auf Grossveranstaltungen. Das ist deutlich weniger einschneidend als Lockdowns mit Schliessung von Restaurants, Geschäften und Schulen.
Dies ist die Strategie, die in vielen Ländern Asiens sowie in Neuseeland und Australien erfolgreich umgesetzt wurde. Fallzahlen konnten dort tief gehalten werden und weder Gesundheit, Gesellschaft oder Wirtschaft sind stark vom Virus betroffen.
Die Schweiz hat sich aus mir unerklärlichen Gründen gegen diese Strategie entschieden. “Kein anderes europäisches Land hat die Tests seit dem Frühling so wenig ausgebaut wie die Schweiz.”, schrieb die NZZ Mitte Oktober.
Das war ein bitteres Versäumnis. Als die Fallzahlen anstiegen, war die Kontaktverfolgung bald überfordert. Infektionsketten konnten nicht mehr unterbrochen werden und die Verbreitung des Virus nahm rasant zu.
Wir hätten auf die Wissenschaft hören sollen. Es wäre allen besser gegangen. Wohlverstanden ohne signifikante Einbussen für die Wirtschaft. (Sogar Economiesuisse war sich mit der Wissenschaft einig und hatte bereits im April einen Ausbau der Testkapazitäten gefordert.)
Einschreiten, um zweite Welle zu verhindern
Zahlreiche Wissenschaftler hatten über den Sommer vor einer zweiten Welle im Herbst gewarnt und von zu weitgehenden Lockerungen abgeraten.
Bereits im Mai erklärte die Task Force: “Ein exponentielles Ansteigen kann zu einer dramatischen Situation führen, in der eine hohe Zahl von Infektionen eine grosse Last für die Gesellschaft und Wirtschaft darstellen, und das Wiedererlangen der Kontrolle schwierig ist.”
Im Juni warnte sie vor einer zweiten Welle (Dokument) und betonte, wie wichtig eine schnelle Reaktion ist, wenn Fallzahlen ansteigen. Sie warnte auch vor noch höheren Todeszahlen als in der ersten Welle. “Given that the first wave resulted in over 1500 deaths and a seroprevalence of a few percent only, an uncontrolled second wave could lead to many more additional deaths.”
Im Juli verlieh die Task Force ihren Warnungen Nachdruck und schrieb (Dokument): “Sofortiges Handeln ist unerlässlich, um größere Schäden für Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft abzuwenden.”. Und weiter: “Es ist äusserst wichtig, rasch zu reagieren. Wenn die Massnahmen zu spät eingeführt werden, erschwert dies die Kontrolle der Epidemie und die Vermeidung einer zweiten Welle. In der Folge nehmen die negativen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft dramatisch zu.”
Wir hätten auf die Wissenschaft hören sollen. Es wäre allen besser gegangen. Über den Sommer hätten wir Fallzahlen mit vergleichsweise milden Massnahmen tief halten können. Im Herbst wären Fallzahlen vermutlich trotzdem angestiegen, da mit dem kälteren Wetter mehr Kontakte in Innenräumen stattfanden. Mit schnellen Reaktionen und regional strengeren Massnahmen hätten wir eine zweite Welle vermutlich frühzeitig brechen können.
Mehr Massnahmen, um Auslastung der Intensivstationen zu vermeiden
Im Oktober warnten Wissenschaftler vor einer Auslastung der Intensivstationen.
An einer Pressekonferenz am 23. Oktober erklärte Task-Force-Leiter Ackermann, die kritische Kapazität auf den Intensivstationen sei ohne weitere Massnahmen in zwei bis drei Wochen erreicht. “Die heute geltenden Massnahmen auf Bundesebene reichen bei weitem nicht aus.”, sagte er.
Ihm wird nun vorgeworfen, er hätte mit übertriebenen Horrorszenarien Panikmache betrieben. Dem ist aber nicht so.
Lassen wir die Diskussion darüber, ob Betten auf den Intensivstationen nun zertifiziert sein müssen oder nicht, mal weg. Hier ist eine Übersicht von SRF über die Belegung aller Intensivbetten (ob zertifiziert oder “ad hoc”):
In Rot habe ich eine Einschätzung davon eingezeichnet, was geschehen wäre, wenn Wahleingriffe nicht im grossen Stil verschoben worden wären. Alle Intensivplätze wären belegt gewesen und wir hätten Patienten abweisen müssen. (Und lassen wir uns vom Euphemismus “Wahleingriff” nicht täuschen. Das sind nämlich keine Schönheitsoperationen, sondern oftmals Eingriffe, um lebensbedrohliche Situationen abzuwenden.)
Zudem ist zu berücksichtigen, dass mehrere stark betroffene Kantone der Westschweiz Anfang November deutlich strengere Massnahmen eingeführt haben als die auf Bundesebene, die Herr Ackermann als unzureichend bezeichnete. Sie schlossen Bars, Restaurants und andere Einrichtungen. Ohne diese Lockdowns hätte die leichte Erholung der COVID-19-Intensivbettenauslastung in der zweiten Novemberhälfte wohl nicht stattgefunden. Die Fälle wären stattdessen wahrscheinlich weiter gestiegen.
Wir hätten auf die Wissenschaft hören sollen. Ihre Prognosen waren richtig. Weil die Empfehlung weiterführender Massnahmen teilweise umgesetzt wurde, konnte Schlimmeres verhindert werden.
Massnahmen nicht zu früh lockern
Die Fallzahlen in den Westschweizer Kantonen mit Lockdowns sind deutlich gesunken. In vielen Kantonen der Deutschschweiz steigen die Infektionszahlen aber bereits wieder. Viele Wissenschaftler warnen daher vor übereilten Lockerungen, ja empfehlen sogar Verschärfungen von Massnahmen.
Die Wirtschaftslobby setzt sich dagegen für so wenige Massnahmen wie möglich ein. Kämpft um jede Stunde, die Restaurants geöffnet bleiben können. Und kaum nehmen die Fallzahlen weniger stark zu (denn sie gehen ja nicht runter, es kommen weniger schnell neue dazu), fordern sie sofort, auf sämtliche Massnahmen zu verzichten.
Stellen wir uns vor, es gäbe einen Grossbrand in einer Stadt. Vorgestern haben die Flammen zehn zusätzliche Gebäude erfasst. Gestern kamen acht weitere dazu. Die Wirtschaftslobby fordert nun, dass die Feuerwehr abzieht und alle Geschäfte wieder geöffnet werden. Die Zahlen gehen ja runter, also ist alles wieder gut. Das wäre absurd. Und während jeden Tag weitere Gebäude vom Feuer erfasst werden und sich der Brand weiter ausbreitet, wäre es auch unverständlich, wenn die Stadt behaupten würde, sie hätte den Brand gut unter Kontrolle und weitere Massnahmen wären daher unnötig. (Und noch absurder wäre es, wenn sie die Feuerwehr nach Hause schickt, weil irgendwo in einer Schublade ein “Schutzkonzept” liegt.)
Wir sollten endlich auf die Wissenschaft hören. Sonst haben wir bald eine dritte Welle. Und dann wünschten wir uns wahrscheinlich, wir hätten die dringenden Empfehlungen von Frau Eckerle und ihren Kolleginnen und Kollegen ernst genommen. So hätten wir eine zweite Welle nämlich vermeiden können. Oder sie zumindest schnell unter Kontrolle bringen können mit einem kurzen, aber heftigen landesweiten Lockdown im Oktober.