Ein Jahr später erst recht unerhört irreführend

Opa Köbi
9 min readOct 23, 2021

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Die versuchte Erstürmung des Bundeshauses am Abend des 16. September 2021 durch Gegner der Corona-Massnahmen. Viele der Demonstranten sind angetrieben von Fehlinformationen. Und sie werden zunehmend gewalttätig. (SRF)

Vor genau einem Jahr fand die Premiere von Reto Brennwalds Film “Unerhört!” statt. Darin kritisierte er die Corona-Massnahmen und deklarierte sie nicht nur als unnötig, sondern gar als kontraproduktiv, denn die Massnahmen seien gefährlicher als das Virus, welches auch ohne Lockdown längst verschwunden wäre.

Dass zahlreiche Aussagen im Film irreführend waren, musste Brennwald schon am Tag der Premiere bewusst gewesen sein. Trotzdem veröffentlichte er den Film unverändert, rührte die Werbetrommel und sammelte Spenden. Korrigiert wurden die Behauptungen im Film meines Wissens nie. Die Website zum Film existiert unterdessen gar nicht mehr.

Eine Archiv-Version der Website des Films “Unerhört!” (links und Mitte). Sie sammelte einst Spenden. Unterdessen ist die Seite ganz verschwunden und ein Platzhalter wird angezeigt (rechts).

Die Frustration über diesen Film voller Fehlinformationen war Auslöser meiner Blogger- und Twitter-“Karriere”. Mein erster Beitrag widmete sich einer Top 10 der klar irreführenden Inhalte im Film.

Schauen wir nun nach einem Jahr nochmal zurück auf die Kernaussagen des Films.

Das Virus ist gar nicht so gefährlich, die Medien betreiben Panikmache

Brennwald lässt die Ärzte Chaix, Schmidli und Vernazza die Gefährlichkeit des Coronavirus in Frage stellen. Grundtenor: Nicht schlimmer als eine normale Grippe, alles reine Panikmache der Medien. “Dass d’Lüüt kei Luft überchömed, das hät’s scho immer gäh, das isch überhaupt nöd neu.”, erklärt beispielsweise Schmidli. Neu sei bloss die Angstmacherei in den Zeitungen.

“Koch ist überzeugt, ohne Massnahmen hätte die Schweiz 10'000 Tote, viermal mehr als in einem starken Grippejahr.”, erklärt Brennwald zu Bildern einer Gondelfahrt mit “Mr. Corona” Daniel Koch. Unterdessen sind — wohlverstanden trotz drastischer Massnahmen — bereits über 10'000 in der Schweiz an COVID-19 gestorben. Kochs Schätzung war also zu optimistisch.

Brennwald hielt sie dagegen für Hysterie. Im Frühling 2020 seien fast genau gleich viele Leute an Corona gestorben wie 2015 an der Grippe, führt er aus. Die Krematorien seien auch 2015 und 2017 ausgelastet gewesen, also alles courant normal. Hier blendet er aus, dass Sterbezahlen gerade dank des Lockdowns reduziert werden konnten. Und er ist voreilig mit seinen Schlüssen. Die Übersterblichkeit in 2020 würde die von 2015 bei weitem übersteigen — trotz der Massnahmen.

Jährliche Übersterblichkeit in der Schweiz seit 2010 (Quelle). 2020 ist nicht vergleichbar mit einem starken Grippejahr wie 2015.

Brennwald lässt es sich auch nicht nehmen, dem Spitalpersonal Ratschläge zu erteilen. “Auch im Spital reichen die normalen Hygieneregeln, um sich gegen eine Ansteckung mit Corona zu schützen.”, behauptet er. Unterdessen wissen wir, dass regelmässiges Händewaschen und chirurgische Masken nicht ausreichen. Mit FFP2/FFP3-Masken ist Pflegepersonal deutlich besser geschützt.

Massnahmen waren unnötig, denn das Virus wäre ganz von selbst verschwunden

“Schon drei Wochen nach dem Stillstand gab es klare Indizien dafür, dass die Epidemie abklingt.”, erklärt Brennwald mit Bezug auf den ersten Lockdown im März/April 2020.

Mediziner Martin Haditsch behauptet: “Die R0 war bereits am 20. März auf 1 und die Fallzahlen waren sinkend. Die waren sinkend lange bevor die Schutzmaskenpflicht gekommen ist. Also alle diese Dinge jetzt sozusagen als gerechtfertigt anzuführen, weil dadurch die Katastrophe verhindert worden ist, ist unseriös und es ist gelogen. Es stimmt nicht.” (Bezüglich der sonderbaren Nutzung der Basisreproduktionszahl R0, die eigentlich eine Konstante sein sollte und sich über Zeit nicht verändern, drücken wir hier mal ein Auge zu.)

Vernazza nennt ähnliche R-Wert-Berechnungen von ETH und RKI und auch Daniel Koch stellt in Frage, ob der Lockdown das einzige war, das den Ausschlag gegeben habe. Sie lassen ausser Acht, dass die Bevölkerung ihr Verhalten bereits vor Beginn des Lockdowns angepasst hatte und Kontakte einschränkte.

Die Aussage des Films ist klar: Der Lockdown war unnötig. Das Virus wäre auch ohne Lockdown von selbst verschwunden. Unter dem Titel “Warum alle falsch lagen” schrieb Immunologe Beda Stadler, der im Film ebenfalls mehrfach zu Wort kommt, im Juni 2020 in der Weltwoche “Das Coronavirus verzieht sich allmählich.”.

30–40% der Bevölkerung hätten möglicherweise sowieso schon eine Immunität gegen das Coronavirus, behauptet Arzt Vernazza. Stadler stimmt ihm zu. “Vielleicht ist die Immunität eine Erklärung dafür, dass Schweden jetzt erfolgreich ist. Auch ohne Lockdown und ohne Maskenpflicht nehmen dort die positiven Tests kaum mehr zu.”, sagt Brennwald. “Schweden ist ganz sicher nicht gescheitert.”, doppelt Vernazza nach. “Sie haben das jetzt gut unter Kontrolle.”

So sehen die Todeszahlen in Schweden aus im Vergleich zu Nachbarländern und der Schweiz:

Kumulative COVID-19-Todesfallzahlen relativ zur Bevölkerung in Schweden, Dänemark, Finnland, Norwegen und der Schweiz (Quelle).

Auf die Bevölkerung gerechnet sind in Schweden dreimal mehr gestorben als in Dänemark, siebenmal mehr als in Finnland und neunmal mehr als in Norwegen. Neunmal mehr Tote als im Nachbarland!

Konnten die Schweden wenigstens mehr Freiheiten geniessen, die sie sich mit all den Toten erkauft haben? Nein, auch das nicht wirklich. Schweden hatte insgesamt meist strengere Massnahmen als die Nachbarländer.

In der ersten Welle waren Schwedens Massnahmen lockerer, doch seither waren sie insgesamt meist strenger als die der Nachbarländer (Quelle).

Und was ist mit der schwedischen Wirtschaft? Haben die vielen Toten wenigstens dem Bruttoinlandprodukt geholfen? Auch das nicht. Schweden sah den stärksten Einbruch der Wirtschaftsleistung unter seinen Nachbarn (-3.1% in 2020 im Vergleich zu Finnlands -2.8%, Dänemarks -2.7% und Norwegens -2.5%).

Wer heute Schweden noch als Vorbild nennt, dem man nacheifern sollte, kann nicht mehr ernst genommen werden. Das war schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Films schwierig.

Genauso schwer zu verteidigen war und ist die Aussage, das Virus wäre ganz von alleine verschwunden. So haben sich die Todeszahlen in der Schweiz entwickelt:

Kumulative Zahl der COVID-19-Todesfälle in der Schweiz. Kann man ernsthaft behaupten, das Virus wäre im April 2020 auch ohne jegliche Massnahmen von selbst verschwunden? (Daten gemäss BAG, Quelle)

Weltweit sind seit diesen Ankündigungen des baldigen selbstständigen Verschwindens des Virus mehr als geschätzte 10 Millionen Menschen an ihm gestorben.

Modelle im Frühling 2020 hatten bereits Millionen von Toten erwartet. Doch diese Modelle seien völlig falsch gewesen, behauptet Brennwald. Er kritisiert Neil Ferguson vom Imperial College für “miserable Software”. “Hochkarätige Wissenschaftler, die viel tiefere Zahlen prognostizierten, wurden nicht gehört.” So zum Beispiel Chemie-Nobelpreisträger Michael Levitt.

Die Modelle damals hatten für die USA etwa 2.2 Millionen Tote erwartet ohne jegliche Massnahmen. Levitt hielt das für viel zu hoch, seine Zahlen waren zehnmal kleiner, also 220'000 Tote in den USA. Unterdessen sind in den USA über 700'000 Menschen an COVID-19 gestorben — und das trotz regionaler Lockdowns, Maskenpflicht, und nun auch der hochwirksamen Impfungen. In diesen Zahlen fehlt eine vermutlich beachtliche Dunkelziffer. Dass ohne jegliche Massnahmen über zwei Millionen gestorben wären, scheint nicht mehr so abwegig.

Levitt behauptete im März 2020 auch, er wäre überrascht, wenn Israel mehr als zehn COVID-Tote verzeichnen würde. Es sind bis heute über 8'000. Er prognostizierte damals ebenfalls, die Zahl an Toten würde laufend abflachen und die Epidemie würde innert Wochen vorbei sein. “We are going to be fine.” Damit lag er schlicht völlig falsch — auch ein Nobelpreisträger kann sich irren.

Die Massnahmen sind übertrieben und bringen sowieso nichts

Angehörige beschweren sich im Film darüber, dass ihre am Coronavirus erkrankten Eltern auf eine COVID-Station im Spital verlegt wurden. Dass sie dort nicht besucht werden konnten. Dass Notärzte in “Vollmontur” erschienen seien, “Anzüge, Handschuhe, Brille, Mundschutz, Kopfbedeckung” — “wie bei einem Giftanschlag”. Die Eltern wären lieber gestorben, als ihre Familie ein paar Wochen nicht treffen zu können.

Diese Angehörigen haben den Ernst der Lage schlichtweg nicht erkannt. Und nicht verstanden, dass es nicht nur um sie selbst geht. Dass sie mit ihrem Besuch im Spital oder Pflegeheim auch andere gefährden, scheinen sie nicht zu verstehen. Würden sie den Tod der Mitbewohnerinnen und Mitbewohner im Altersheim auch gerne in Kauf nehmen, um ihre eigenen Eltern während weniger Wochen persönlich sehen zu können anstatt auf einem Bildschirm?

Vielleicht haben sie sich von Brennwalds Mitstreitern überzeugen lassen, dass COVID-19 nicht gefährlicher ist als eine normale Grippe. Glaubt man diese Fehlinformationen, so scheint das ganze Aufheben tatsächlich übertrieben.

“Klar ist eigentlich nur: Händewaschen und Abstandnehmen hilft. Fast alles andere ist umstritten.”, behauptet Brennwald. Schon damals war in der Wissenschaft bekannt, dass Händewaschen eine untergeordnete Rolle spielt bei den Massnahmen, da das Virus vor allem über die Luft und nicht über Oberflächen übertragen wird. Und auch Abstandhalten hilft nur beschränkt, insbesondere, wenn man sich über längere Zeiträume mit vielen anderen Menschen in Innenräumen aufhält. Da überträgt sich das Virus über Aerosole, trotz Abstand. Leider fanden diese wichtigen Erkenntnisse ihren Weg zu den Gesundheitsbehörden und in die öffentliche Diskussion nur sehr langsam. Teilweise wurden sie aktiv unterdrückt, damit man nicht früheren eigenen Aussagen widersprechen musste.

Brennwald befürwortet nicht nur die Massnahmen, die am wenigsten nützen, er nährt auch Zweifel an denen, die wirkungsvoller sind. Zum Beispiel an der Wirksamkeit von Masken. Und Daniel Koch hilft dabei tatkräftig. Auch Arzt René Zellweger verkündet “Es braucht sicher keine Schutzmasken.”.

Unterdessen ist völlig klar, dass Masken die Verbreitung des Virus eindämmen, insbesondere FFP2/FFP3-Masken. Eine wissenschaftliche Studie von Forschern der Universitäten Yale, Stanford, Berkeley und der NGO Innovations for Poverty Action zeigte anhand eines Experimentes in 600 Dörfern in Bangladesch die Wirksamkeit schon von einfachen chirurgischen Masken eindrücklich auf. Auch in diesem Punkt verbreitete Brennwald fragwürdige medizinische Informationen.

Auch das Testen hält Brennwald für unnötig. Die Rate der positiven Ergebnisse bliebe minimal, trotz fast 90'000 PCR-Tests pro Woche im September 2020. “In einem Jahr werden wir eine Milliarde ausgeben für Tests.”, rechnet Vernazza im Film vor. “Nei, unglaublich, stell Dir das vor.”, murmelt Brennwald im Hintergrund. Haditsch, Koch und Schmidli stellen die Zuverlässigkeit der Tests in Frage. Schmidli rät allen, den Test nicht zu machen, “denn er bringt ja nichts ausser Ärger und Probleme”.

Tests helfen nicht nur, die Krankheit zu erkennen und Patienten richtig zu behandeln, sondern sie ermöglichen insbesondere auch gezielte Quarantänen, um die Verbreitung zu unterbinden. Die Tests ersparen uns Lockdowns, denn es müssen nicht mehr alle in Quarantäne, sondern nur die, von denen ein hohes Ansteckungsrisiko ausgeht.

Anteil positiver Corona-Tests gemäss BAG. Er blieb nicht “minimal”, sondern war über Wochen über 10%, kurzzeitig sogar über 20% (Quelle).

“Tatsache ist, obwohl nur wenige Patienten in den Spitälern liegen und nur noch vereinzelt Menschen sterben, sind wir immer noch auf positive Tests fixiert.”, kritisiert Brennwald. Die Schweiz sei da kein Einzelfall. Es folgt ein Beitrag mit einem Arzt aus Madrid von August 2020. “Sind die 540 Infizierten krank oder wurden sie nur positiv getestet? Genau hier liegt der Fehler.”, meinte der Arzt. “Die Daten sind zwar nicht falsch, aber verwirrend. Man glaubt, dass die Covid-Fälle steigen, aber das stimmt nicht. Die Zahlen steigen, aber nicht bei den Patienten mit Covid-Erkrankung.”

Zu diesem Zeitpunkt hatte Spanien etwa 30'000 Covid-Tote zu beklagen. Ein halbes Jahr später waren es 70'000. Waren das also wirklich alles nur verwirrende Testergebnisse und die Zahl der Patienten stieg gar nicht an? Im August lagen etwa 5'000 Covid-Patienten in spanischen Spitälern. Im November wurde ein Höchststand von über 20'000 erreicht, im Februar einer von über 30'000.

Auch die wirtschaftlichen Schäden prangert Brennwald an und zeigt ein Hotel, welches schliessen musste. Hierbei macht er einen klassischen Fehler: Er vergleicht eine Welt mit Massnahmen mit einer ohne Virus. Für den Einbruch der Gästezahlen ist in erster Linie das Virus verantwortlich und nicht die Massnahmen. Je schneller wir die Fallzahlen senken können, desto mehr Aktivität ist wieder möglich und desto attraktiver wird die Schweiz auch für Tourismus und Geschäftsreisen.

Doch Massnahmen zur Senkung der Fallzahlen könnten kontraproduktiv sein, mahnt der Film. Der Lockdown könnte mehr Menschen töten als COVID-19, behauptet Arzt Schmidli. Es würde ihn nicht wundern, wenn Analysen im Nachhinein zeigen würden, dass das Sterben mit dem Lockdown erst losgegangen ist. Und Levitt doppelt nach, Rezessionen töteten Menschen. Eine harte Rezession sei mit Sicherheit gefährlicher als COVID-19. Auch hier liegt der Nobelpreisträger völlig falsch.

Übersterblichkeit in den USA seit 1910. Die jüngsten grossen Rezessionen erlebten wir 2008/09 und 2001. Die Tödlichkeit von COVID-19 übersteigt sogar den Effekt der Weltwirtschaftskrise von 1929–33 (Quelle).

Reite ich hier unnötig auf altem Zeug rum? Ich glaube es nicht. Der Film wurde alleine auf der Plattform Vimeo knapp 500'000 mal geschaut. Die darin verbreiteten Fehlinformationen sind bei vielen hängengeblieben und lassen sich nur schwer wieder korrigieren.

Zusätzlich geht es mir auch um Verantwortung. Wer Falschinformationen in die Welt hinausposaunt und damit dank seiner Bekanntheit grosse Teile der Bevölkerung erreicht, sollte sich der eigenen Verantwortung bewusst sein. Und anerkennen, dass der Film dazu beigetragen hat, im Herbst 2020 Massnahmen zu verzögern, und damit Menschenleben in Gefahr gebracht hat. Dieser Verantwortung kann sich Brennwald nicht entziehen, auch wenn er die Website zum Film vom Netz nimmt.

“Rückblickend ist es jetzt natürlich einfach, den Film zu kritisieren, aber niemand kann die Zukunft vorhersehen! Damals wusste niemand genau, was geschehen würde, und es war wichtig, auch den Skeptikern eine Stimme zu geben.” — in diesem Stil stelle ich mir eine Reaktion Brennwalds auf die Kritik hier vor.

Doch damit würde er es sich zu einfach machen. Erstens war wie erklärt schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Films klar, dass viele seiner Aussagen irreführend waren. Dafür benötigte man keine Kenntnis der Zukunft. Und zweitens haben Brennwald und die Teilnehmer in seinem Film eben gerade behauptet, dass sie die Zukunft ganz genau kennen, und entsprechende Handlungsempfehlungen ausgesprochen — mit reichlich Selbstsicherheit und Arroganz.

Wenn sich Brennwald tatsächlich als seriöser, unabhängiger Journalist sieht, so wäre ein Korrigendum angebracht. Und vielleicht ein neuer Dokumentarfilm darüber, wie sich die Anti-Massnahmen-Bewegung verrannt hat, die Pandemie unnötig in die Länge zieht und durch zunehmende Gewaltbereitschaft demokratische Normen gefährdet. Dafür würde ich sogar etwas spenden.

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Opa Köbi
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Written by Opa Köbi

Ich mach mir halt so meine Gedanken. Aktuell zu COVID-19 und den Reaktionen insbesondere in der Schweiz. https://twitter.com/OpaKoebi

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