“Lohnt es sich jetzt überhaupt noch, etwas zu tun?”

Opa Köbi
6 min readDec 26, 2020

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Das Skifahren geht weiter, Pandemie hin oder her.

Im Lancet fordert eine Gruppe von Wissenschaftlern ein gesamt-europäisches Engagement, um die Zahl der Corona-Infektionen schnell und deutlich zu senken (Artikel). Aber lohnt sich das jetzt überhaupt noch? Haben wir jetzt nicht die Impfungen und ist nicht alles in wenigen Wochen sowieso vorbei? Warum machen diese Wissenschaftler schon wieder auf Hysterie und Panik?

Es ist keine Panik. Wenn wir jetzt nicht umfassende Massnahmen ergreifen, werden alleine in der Schweiz weitere Tausende Menschen sterben. Und Zehntausende werden vermutlich an Langzeitfolgen leiden. Wirtschaft und Gesellschaft werden ebenfalls unnötig leiden.

Die Wissenschaft hat uns wiederholt gewarnt. Und das waren wohlverstanden Dutzende von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen. Hunderte weltweit haben ähnliche Empfehlungen gemacht. Aber unsere Regierung nahm sie nicht ernst. Die Wünsche des Präsidenten von Seilbahnen Schweiz schienen mehr Gewicht zu haben als die wissenschaftliche Taskforce. Dabei sind die Empfehlungen der Taskforce nicht einfach eine Meinung von vielen, sie basieren auf den besten bisherigen Erkenntnissen der globalen Forschung — auch in Fachgebieten ausserhalb der Epidemiologie, insbesondere auch der Ökonomie.

Weshalb ignoriert unsere Regierung die Wissenschaft, wenn es um Menschenleben und Existenzen geht? Weshalb denken wir so kurzfristig, als wollten wir nur die Umsätze der nächste Woche maximieren? Und weshalb verfallen wir immer wieder dem Wunschdenken, dass das alles schon nicht so schlimm werde und sich irgendwie von selbst lösen wird? Weshalb werden unsere Politiker immer wieder von Entwicklungen überrascht, welche die Wissenschaft erwartet hat?

Wir hatten bisher vier klare Chancen, diese Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Wir haben sie alle ungenutzt lassen. Wenn wir zurückschauen, müssen wir realisieren, dass wir anders hätten handeln sollen. Das sehen unterdessen sogar einige Wirtschaftsverbände ein. Aber lernen wir etwas daraus? Leider nein. Und so verpassen wir weitere Chancen und es wird immer schlimmer.

Dass es andere Länder gibt, die ähnliche Fehler gemacht haben, hilft uns leider wenig. Wir sollten uns nicht damit vertrösten, dass es wenigen anderen noch schlechter geht. Stattdessen sollten wir auf die Länder schauen, denen es deutlich besser geht. Was haben sie richtig gemacht? Was können wir von ihnen lernen?

Wenn wir mit den Fingern schnippen könnten und damit die Schweiz in dieselbe Lage versetzen wie z.B. Neuseeland, würden wir dies tun? Die Antwort muss ja sein. COVID existiert dort schlicht nicht mehr, das Leben ist seit Juni wieder zurück zur Normalität. Gibt es noch einen realistischen Weg, eine Situation ähnlich zu der von Neuseeland zu erreichen? Komplette Elimination des Virus wird vermutlich schwierig, aber wir können Fallzahlen deutlich senken, damit umfassende Kontaktverfolgung wieder ermöglichen und die einschneidenden Massnahmen für alle durch solche für die wenigen Infizierten und deren Kontakte ersetzen. Das wäre besonders wirksam, wenn wir das gleichzeitig und europaweit tun würden. Wenn dies gelingt, können wir auch Reisebeschränkungen innerhalb Europas schrittweise aufheben.

Ich befürchte, dass wir auch unsere fünfte Chance ungenutzt lassen werden. Dass wir wieder nicht lernen. Wiederum zu kurzfristig denken. Wiederum Wunschdenken verfallen. Und wiederum einer Art “sunk cost fallacy” auf den Leim gehen. “Wenn wir jetzt einen richtigen Lockdown machen, hätten wir das doch schon früher tun sollen. Können wir uns nicht noch durchschummeln? So lange kann das ja nicht mehr dauern, oder?”

Wir waren schon viermal in dieser Situation. Schauen wir zurück:

Erste Chance: Mai

Nach dem Frühlings-Lockdown hatten wir im Mai einige Dutzend neue Fälle pro Tag. An einzelnen Tagen sogar weniger als ein einziges Dutzend. Zu dieser Zeit hätten wir nicht feiern sollen und die Pandemie mit “Wir können Corona.” für beendet erklären. Wir hätten zuwarten sollen und langsam schrittweise öffnen. Wir hätten in Testen und Kontaktverfolgung investieren sollen. Das hat die Taskforce damals auch so empfohlen. Ja sogar Economiesuisse plädierte für Investitionen in Testen und Kontaktverfolgung.

Diese Empfehlungen wurden ignoriert. Wir haben diese Chance nicht genutzt.

Noch heute hängt die Kontaktverfolgung von Zettelchen ab, die per Fax rumgeschickt werden. Die Gesundheitsdepartemente der Kantone sind hoffnungslos überfordert. Mitte Dezember wurden beispielsweise im Aargau Briefe verschickt, welche die Empfänger aufforderten, sich Mitte Oktober in Quarantäne zu begeben (Tweet). Man hätte zumindest aus Scham auf den Versand dieser Briefe verzichten können. Und Ressourcen stattdessen dort einsetzen, wo auch tatsächlich noch neue Ansteckungen hätten verhindert werden können.

Es ist höchste Zeit, in moderne digitalisierte Kontaktverfolgung zu investieren. Idealerweise mit einer schweizweiten IT-Lösung. 26 Kantone müssen das Rad nicht unabhängig voneinander neu erfinden. Und Kontaktverfolgung sollte nicht an Kantonsgrenzen enden. Diese Investition ist dringend nötig. Nicht nur für die aktuelle Epidemie, sondern auch für die nächste.

Zweite Chance: Sommer

Über den Sommer stiegen die Fallzahlen exponentiell an. Ja, auf tiefem Niveau. Aber das ist ja grad das Heimtückische an exponentiellem Wachstum: erst ist es langsam und dann explodiert’s plötzlich und ganz “unerwartet”. Trotzdem kündigte der Bundesrat weiter Lockerungen an. Grossveranstaltungen würden ab Oktober wieder erlaubt.

Mir war es damals ein Rätsel, was der Bundesrat erwartete. Was dachten sie sich denn, wie die Fallzahlen sich entwickeln würden? Sie stiegen bereits exponentiell an und der Bundesrat wollte weitere Lockerungen? Das lässt sich nur mit realitätsfremdem Wunschdenken erklären. Oder aber der Bundesrat nahm den Tod von Tausenden tatsächlich bewusst in Kauf, für die Wirtschaft — die “Güterabwägung”, die Ueli Maurer erklärte.

Die Wissenschaft warnte erneut. Vor einer zweiten Welle, die noch deutlich stärker sein könnte als die erste im Frühling. Die Taskforce empfahl, möglichst schnell Massnahmen zu ergreifen.

Diese Warnungen wurden ignoriert. Wir haben diese Chance nicht genutzt.

Dritte Chance: Oktober

Ende September rechnete in Deutschland Bundeskanzlerin Merkel vor, wie Fallzahlen bei gleichbleibender Wachstumsrate 19’200 Fälle pro Tag erreichen würden bis Ende Jahr (Video). “Panikmache”, “Horrorzahl”, “Luft-Nummer”, “purer Alarmismus” — mit solchen Vorwürfen reagierten Teile der Presse. “Ein echter Schock: Bisher lagen die höchsten Tageswerte bei rund 6000 Neuinfektionen. Das war Ende März und Anfang April der Fall, zur Hochphase der Pandemie.”, schrieb zum Beispiel ntv.de (Artikel). Viele konnten sich gar nicht vorstellen, dass es noch deutlich schlimmer werden könnte als im Frühling. Doch Deutschland zählt unterdessen über 25’000 bestätigte Neuinfektionen pro Tag — und das trotz “Lockdown light”.

Spätestens im Oktober musste auch der Hinterletzte in der Schweiz erkennen, dass die zweite Welle nun mit voller Wucht da war. Etwa 500 neue Fälle pro Tag Anfang Oktober wurden zu 3’000 Mitte Oktober und 9’000 Ende Oktober.

Die Taskforce drängte dazu, Massnahmen zu ergreifen. Wiederum hörten wir “Jeder Tag zählt.”. Doch der Bundesrat handelte nicht. Er ignorierte die Wissenschaft erneut. Glücklicherweise ergriffen einige Kantone der Westschweiz strengere Massnahmen, konnten damit ihre Fallzahlen deutlich senken und Schlimmeres verhindern. Im Rest des Landes erholten sich die Fallzahlen ein bisschen, aber stiegen dann wieder an. Vermutlich, weil der Blick auf die Gesamtzahlen der Schweiz suggerierte, dass die Situation besser wird. Die Wirtschaftsverbände forderten schon wieder Lockerungen und viele Menschen werden wieder zu mehr Risiko bereit gewesen sein.

Wir haben die zweite Welle vorübergehend ein bisschen gebremst, aber sie hält weiterhin an. Wir hätten sie vollständig stoppen sollen. Wir haben diese Chance nicht genutzt.

Vierte Chance: Weihnachten

Vor Weihnachten stagnierten die Fälle bei etwas mehr als 4’000 bestätigten Neuinfektionen pro Tag. Wir hätten die ruhigere Zeit über die Festtage nutzen können für einen richtigen Lockdown. Das hätte sich geradezu angeboten. Die Kinder gehen sowieso nicht zur Schule und in den Büros ist deutlich weniger los.

Der Bundesrat konnte sich leider nur zu einer Schliessung der Restaurants durchringen — und sogar dies mit Ausnahmen. Diese Halbherzigkeit wird nun vermutlich dazu führen, dass die Restaurants noch länger geschlossen bleiben müssen als bis am 22. Januar.

Wir hätten es besser einmal richtig gemacht, als ständig den Flickenteppich von Massnahmen ein bisschen anzupassen. Aber wir haben diese Chance nicht genutzt.

Was kommt nun als nächstes? Über die Feiertage könnten die gemeldeten Fälle weiterhin konstant bleiben oder sogar etwas sinken, da vermutlich auch weniger getestet wird. Anfang Jahr gehen dann all die, die sich bei Familienfesten und anderen Zusammenkünften angesteckt haben, wieder zur Arbeit und in die Schule. Und die ansteckendere Mutation (“VOC-202012/01”, “N501Y.V1” oder auch “B.1.1.7” abhängig davon, wer darüber schreibt) aus Grossbritannien wird nicht nur von Skitouristen in die Schweiz eingeschleppt worden sein. Ich befürchte daher, dass die Zahl der Fälle im Januar wieder deutlich ansteigen könnte.

Wir können das abwenden, wenn wir die fünfte Chance nutzen. Ein richtiger, konsequenter Lockdown. Verlängerung der Weihnachtsferien für die Schulen oder Fernunterricht. Home Office obligatorisch überall, wo das möglich ist. Restaurants, Bars, Freizeiteinrichtungen, etc. bleiben geschlossen. Auch die Skigebiete. Idealerweise würden wir das europaweit machen. Gleichzeitig müssen wir massiv investieren in besseres Testen, Kontaktverfolgung, Quarantäne und Isolation.

Und wenn es uns gelingt, die Fallzahlen wieder so zu senken, wie wir das im Frühling gemacht haben, dann müssen wir anschliessend vorsichtig und schrittweise wieder öffnen. Einige Einschränkungen würden noch mehrere Monate beibehalten werden müssen. Aber es würden wenig einschneidende sein, Masken im öffentlichen Verkehr und in Gebäuden sowie Verzicht auf Grossveranstaltungen.

Zudem würde ich mir wünschen, dass Bundesrat und BAG endlich ehrlich kommunizieren. Insbesondere dazu, wie sich das Virus verbreitet und welche Schutzmassnahmen wirkungsvoll sind. Abstand scheint weiterhin das Allheilmittel zu sein, obwohl seit Monaten gut dokumentiert ist, wie sich das Virus über Aerosole in Innenräumen verbreitet, auch wenn alle 1.5 Meter Abstand zueinander haben. Bessere Information zu Art und Ausmass von Langzeitfolgen wäre ebenfalls angebracht.

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Opa Köbi

Ich mach mir halt so meine Gedanken. Aktuell zu COVID-19 und den Reaktionen insbesondere in der Schweiz. https://twitter.com/OpaKoebi