Eine Leserin schickte mir Fotos eines Flyers, den sie kürzlich in ihrem Briefkasten vorgefunden hatte. Er warnte vor der Coronavirus-Impfung mit diversen irreführenden Behauptungen und versucht, damit Angst zu schüren.
Die Funktionsweise und die Beurteilung von Langzeitfolgen von mRNA-Impfstoffen zu erklären, überlasse ich Kollege Moder. Ich möchte mich hier auf eine Aussage konzentrieren, die leider oft ähnlich vorgebracht wird im Zusammenhang mit der Wirksamkeit von Medikamenten:
“Wussten Sie, dass die neuen mRNA-Impfstoffe durch einen Zahlenschwindel auf eine 90% Schutzwirkung kommen? Von 20’000 Geimpften waren 0.04% PCR-positiv, von den Ungeimpften 0.43%. Also eine Risikominderung von 0.39% (0.43–0.04). Weil 0.39% nicht so beeindruckend klingt, dividierten die Impfstoffhersteller 0.39 durch 0.43, um auf die 90% zu kommen.”
Unerhört! Die Impfstoffhersteller sind so reich, die können sich sogar eine Division leisten!
Ich bin nicht sicher, wo diese Zahlen genau herkommen. Sie erinnern von der Grössenordnung her aber an erste veröffentlichte Ergebnisse von Pfizer/BioNTech von Anfang November.
Schauen wir uns oft missverstandene Zahlen im Zusammenhang mit Medikamentenwirksamkeit anhand eines einfachen Beispiels an.
Ein einfaches Beispiel zur Illustration
Nehmen wir an, es gibt eine Krankheit, die 99% der Betroffenen problemlos überleben. 1% verstirbt jedoch.
Nun wurde ein Medikament entwickelt und getestet. Es zeigt, dass von den Patienten, denen das Medikament verabreicht wurde, 99.8% überleben.
Diese Daten sehen graphisch dargestellt folgendermassen aus:
Skeptiker würden jetzt sagen “99.8% minus 99.0%, das ist eine Verbesserung von 0.8%. Lächerlich. Bringt ja fast gar nichts.”
Damit schauen sie sich aber nicht die relevanten Grössen an. Die 99%, welche die Krankheit mit oder ohne Medikament gut überstehen, sind hier nicht im Fokus. Es geht um die, bei denen das Medikament einen Unterschied macht.
Schauen wir uns also die an, bei denen es wirklich drauf an kommt:
Plötzlich sieht das Bild ganz anders aus! Das ist eine massive Verbesserung! Das Medikament rettet das Leben von 80% der Menschen, die ohne es gestorben wären.
Dieser Effekt wird noch deutlicher, wenn man sich das anhand von konkreten Zahlen veranschaulicht: Nehmen wir an, eine Million Menschen sind von der Krankheit betroffen. Ohne das Medikament sterben 1%, also 10’000. Mit dem Medikament sterben nur noch 0.2%, also 2’000. Das Medikament hat 8’000 Menschen das Leben gerettet! Hier von einer Verbesserung von “nur 0.8%” zu sprechen, wäre völlig irreführend.
Noch klarer wird es, wenn wir uns vorstellen, dass ein noch besseres Medikament statt 99% ganze 100% der Menschen überleben lässt. Ist das eine Verbesserung von nur 1.0%? Nein, das ist eine Verbesserung von 100%! Niemand stirbt mehr an dieser Krankheit.
Was wurde bei der mRNA-Impfung gerechnet?
Bei der Darstellung der Zahlen im Flyertext liegt der Fokus ebenfalls da, wo er nicht hingehört. Und zwar werden alle die mitreingerechnet, die dem Virus gar nie ausgesetzt waren. Ob die geimpft sind oder nicht, ist völlig irrelevant. In beiden Fällen werden sie nicht krank.
Die genannten 0.39% hängen vor allem ab von der Wahrscheinlichkeit, über den Beobachtungszeitraum der Studie in Kontakt mit dem Virus zu kommen. Und ja, diese Wahrscheinlichkeit ist klein. Das ist aber nicht die relevante Frage. Die Frage lautet “Wenn ich in Kontakt mit dem Virus komme, wie viel besser stehe ich dann da, wenn ich geimpft bin?”. Und darauf ist die Antwort eben, dass die Impfung mich mit einer Wahrscheinlichkeit von 90% schützen wird. Das ist ziemlich gut!
Der Flyer fragt ebenfalls “Wussten Sie, dass die neuen mRNA-Impfstoffe, auf Studien beruhen, die ihre Wirksamkeit nicht beweisen? Es gibt keine Impf- und Placebo-Gruppen, an denen eine Ansteckung versucht wird.”
Der zweite Satz ist genau genommen zwar korrekt, aber er scheint absichtlich so formuliert zu sein, dass er falsche Eindrücke erweckt. Natürlich gab es Impf- und Placebo-Gruppen. Nur wurde niemand im Rahmen der Studie absichtlich mit dem Coronavirus angesteckt.
Schliesslich wäre es ethisch nicht vertretbar, Zehntausende Studienteilnehmer mit einem potentiell tödlichen Virus zu infizieren, wenn die Wirksamkeit der Impfung noch nicht bekannt ist. Die Hälfte der Teilnehmer, die ein Placebo erhalten, wäre dem Virus zudem in jedem Fall schutzlos ausgeliefert, unabhängig von der Wirksamkeit des Impfstoffes.
Stattdessen beobachtete die Studie nach der Impfung, wie viele Teilnehmer welcher Gruppe über die Zeit ein positives COVID-Testresultat hatten — weil sie im Alltag angesteckt worden waren. Dabei ergab sich folgendes Bild:
Die Linien zeigen schön, wie in den ersten Tagen nach der Dosis 1 noch kein Impfschutz besteht; in beiden Gruppen sind positive Fälle in etwa gleich wahrscheinlich. Doch dann trennen sich die Linien. In der Placebo-Gruppe nehmen Fälle weiterhin zu, während sie in der Impfgruppe nur noch sehr langsam ansteigen.
Je länger man beobachtet, desto mehr steigen die Fälle in beiden Gruppen an. In der ersten schneller und in der zweiten viel langsamer. Die Differenz von 0.39%, die im Flyer genannt wird, würde über Zeit also ansteigen. Ein weiterer Grund, weshalb dies keine relevante Grösse ist. Sie misst vor allem die Wahrscheinlichkeit, über Zeit irgendwann angesteckt zu werden, und nicht die Wirksamkeit der Impfung.
Die veröffentlichten Linien von Pfizer/BioNTech zeigen den Erfolg der Impfung auf den ersten Blick. Grosse Rechnerei und Statistik ist gar nicht nötig, wie xkcd richtig erkannte: