Der Lockdown im Frühling war völlig unnötig. Es sterben nicht mehr Menschen als bei einer normalen Grippe. Masken bringen nichts. Testen bringt nichts. Und die Hälfte der Bevölkerung ist sowieso schon immun. Diese und andere Behauptungen macht der Film “Unerhört!” von Reto Brennwald zur Corona-Epidemie.
Der Film ist voller Widersprüche. Institutionen wie dem Bundesamt für Gesundheit kann man nicht trauen, aber ausgewählte Aussagen derselben Stellen werden als bare Münze genommen, wenn sie in die Geschichte passen, die der Autor erzählen will. Die Ärzte, die zu Wort kommen, monieren, man solle sich nicht auf Einzelfälle konzentrieren, beziehen sich dann aber sehr gerne auf Einzelfälle, wenn sie ihre Sichtweise zu untermauern scheinen.
Die Argumente sind oft etwas zu kurz gegriffen und ethisch fragwürdig. So erklärt eine verzweifelte Enkelin, dass ihr Grossvater den eigenen Tod gerne in Kauf genommen hätte, um die Familie sehen zu können während des Lockdowns. Hätte er den Tod seiner Mitbewohner im Pflegeheim dafür auch gerne in Kauf genommen? So weit denkt der Film nicht.
Wir konzentrieren uns im Folgenden auf faktische Aussagen, die klar irreführend sind. Eine Top 10.
Platz 10: Drei Millionen Tote verhindert in der Schweiz?
“Lässt sich die These belegen, dass der Lockdown Millionen Tote verhindert hat?”, fragt Brennwald und zeigt eine Schlagzeile von Tele Basel aus dem Juni, die drei Millionen verhinderte Todesfälle nennt.
Er lässt es erscheinen, als hätte Tele Basel behauptet, ohne Lockdown wären in der Schweiz drei Millionen gestorben. Das ist irreführend. Tele Basel (Details) bezog sich auf eine Studie (Details) für 11 europäische Länder, inklusive der Schweiz. In diesen Ländern sind bis heute über 200’000 Menschen an COVID gestorben. Das Modell der Wissenschaftler ging von 52’000 verhinderten Todesfällen in der Schweiz aus, nicht drei Millionen.
Platz 9: Es sterben gleich viele wie bei einer starken Grippe
“2015, in einem starken Grippejahr, starben im Frühling total jede Woche zwischen 1'000 und 1'800 Menschen. Dieses Jahr war es fast genau gleich.”, sagt Brennwald. Dies suggeriert, dass Corona nicht gefährlicher ist als eine normale Grippe und der Lockdown daher unnötig. Hier geht vergessen, dass die Zahl der Sterbefälle wegen des Lockdowns tief gehalten werden konnte. Ohne Lockdown wäre sie deutlich höher gewesen. Das zeigt nun auch die zweite Welle.
Platz 8: Nur die Hälfte der Betten in den Intensivstationen war belegt
Brennwald erklärt, selbst zum Höhepunkt im Frühling seien nur etwa die Hälfte der Betten auf den Intensivstationen belegt gewesen. Ja, das war wiederum wegen des Lockdowns.
Aktuell — und trotz einer Reihe von Massnahmen und regionaler Lockdowns — sind 75% der Intensivbetten ausgelastet. Wäre die Zahl der Nicht-COVID-Fälle nicht deutlich gesenkt worden durch die Verschiebung von Wahleingriffen, wäre die Auslastung deutlich höher. Diese Wahleingriffe finden wohlverstanden auch nicht zum Spass statt, sondern oftmals zur Behandlung einer lebensbedrohlichen Situation. Und die Intensivstationen werden aktuell auch dadurch entlastet, dass viele in Pflegeheimen sterben, ohne Spitalbehandlung in Anspruch zu nehmen (Artikel).
Platz 7: Die Epidemie war schon mitten im Lockdown vorbei
“Schon drei Wochen nach dem Stillstand gab es klare Indizien dafür, dass die Epidemie abklingt.” erklärt Brennwald.
Tatsächlich haben Menschen ihr Verhalten bereits vor dem Lockdown angepasst und damit die Verbreitung des Virus verlangsamt. Das bedeutet aber nicht, dass der Lockdown unnötig war.
Nach dem Lockdown wurden die Massnahmen schnell gelockert. Dies war das Resultat:
Abklingen sähe anders aus.
Platz 6: Reproduktionszahl R wäre auch ohne Lockdown unter 1
Martin Haditsch behauptet “Die R0 war bereits am 20. März auf 1 und die Fallzahlen waren sinkend. Die waren sinkend lange bevor die Schutzmaskenpflicht gekommen ist. Also alle diese Dinge jetzt sozusagen als gerechtfertigt anzuführen, weil dadurch die Katastrophe verhindert worden ist, ist unseriös und es ist gelogen. Es stimmt nicht.”
Die zweite Welle zeigt nun deutlich, dass der Reproduktionswert R ohne Massnahmen nicht unter 1 bleibt. Diverse Studien schätzen den R-Wert ohne Massnahmen auf zwischen 2 und 3.
Platz 5: Ansteckungen vor allem in der Familie
“War der Lockdown kontraproduktiv?” fragt Brennwald. “Nach einer Panne musste das BAG zugeben, dass die grösste Ansteckungsgefahr in den Familien stattfindet und nicht etwa in den Clubs.”
Eine wissenschaftliche Studie der Stanford University basierend auf den Mobiltelefon-Daten von 98 Millionen Amerikanern zeigt unterdessen, dass 8 von 10 Ansteckungen in den ersten Monaten der Epidemie in Restaurants, Fitnesscentern, Cafés und anderen Lokalitäten in Innenräumen stattfanden (Artikel, Studie).
Platz 4: Masken bringen nichts
“Klar ist eigentlich nur: Händewaschen und Abstandnehmen hilft. Fast alles andere ist umstritten.”, behauptet Brennwald. Sowohl Masken als auch Quarantäne brächten nichts.
Arzt René Zellweger sagt “Es braucht sicher keine Schutzmaske.”. In welchem Zusammenhang er dies sagte, bleibt jedoch unklar. Im selben Tourismus-Werbespot behauptet Zellweger übrigens auch, es gäbe keine Gefahr einer zweiten Welle. Eine grobe Fehleinschätzung.
Und ja, Masken alleine sind nicht die Lösung. Aber sie sind ein wichtiger Teil der Lösung. Länder in Asien, die früh auf Masken gesetzt haben, (z.B. Taiwan, Südkorea, Japan) zeigen deutlich weniger Fälle als Länder, die auf Masken verzichteten.
Unterdessen ist auch klar, dass Abstand alleine nicht reicht, besonders in Innenräumen. COVID verbreitet sich nämlich auch über Aerosole (Studie).
Platz 3: Die Modelle sind falsch, der Nobelpreisträger kommt auf tiefere Zahlen
Chemie-Nobelpreisträger Michael Levitt sagt “Damals prognostizierte man eine halbe Million Tote für Grossbritannien und 2.2 Millionen für die USA. Meine Zahlen waren etwa 10 mal kleiner.”. Das wären 50’000 für Grossbritannien. So viele sind dort heute bereits gestorben und das Land befindet sich grad mitten in der zweiten Welle. In den USA wären es laut Levitt etwa 220’000 Tote. Bis heute sind über 240’000 Menschen in den USA offiziell an COVID gestorben und Übersterblichkeitszahlen lassen vermuten, dass es deutlich mehr sein könnten. Die dritte Welle beginnt gerade erst mit neuen Rekordzahlen von Infektionen. Die Todeszahlen werden daher weiter steigen — und das trotz eines Flickenteppichs von Massnahmen.
Levitt behauptete im März auch, er wäre überrascht, wenn Israel mehr als zehn COVID-Tote verzeichnen würde (Artikel). Es sind bis heute über 2’700. Er behauptete damals ebenfalls, die Zahl an Toten würde laufend abflachen und die Epidemie würde innert Wochen vorbei sein (Artikel). Damit lag er schlicht völlig falsch — auch ein Nobelpreisträger kann sich irren.
Platz 2: Schweden ist erfolgreich
“Vielleicht ist die Immunität eine Erklärung dafür, dass Schweden jetzt erfolgreich ist. Auch ohne Lockdown und ohne Maskenpflicht nehmen dort die positiven Tests kaum mehr zu.”, sagt Brennwald.
“Schweden ist ganz sicher nicht gescheitert.”, doppelt Arzt Pietro Vernazza nach. “Sie haben das jetzt gut unter Kontrolle.”
Die Fallzahlen explodieren aktuell auch in Schweden. Sie haben pro Kopf der Bevölkerung das Niveau der USA erreicht.
Platz 1: Testen bringt nichts
“Was bringt das Testen?”, fragt Brennwald. Die Rate der positiven Tests bleibe im September minimal.
Die Situation mit den Tests hat sich rapide geändert. Von Mitte Oktober bis Mitte November liegt der Anteil positiver Tests bei etwa 25%, bei Zehntausenden von Tests pro Tag.
Haditsch philosophiert im Film “Wer suchet, der findet. Wenn ich teste, finde ich. Wenn ich mehr teste, finde ich mehr.”. Wenn mit der Anzahl Tests auch die Positivitätsrate hochgeht, bedeutet dies aber nicht, dass es einfach mehr Fälle gibt, weil mehr getestet wird. Es gibt mehr Fälle, weil mehr Menschen infiziert sind.
Aktuell testet die Schweiz nicht genug. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, die Testpositivitätsrate sollte für mindestens zwei Wochen unter 5% liegen, bevor Massnahmen gelockert werden. Davon ist die Schweiz aktuell weit entfernt.
Ein Arzt aus Spanien kritisiert im Film ebenfalls die Tests. “Man glaubt, dass die Covid-Fälle steigen, aber das stimmt nicht.” Aber in Spanien, genau wie in vielen anderen Ländern Europas, nehmen die Todesfälle in den letzten Wochen wieder deutlich zu. Spanien hatte im Sommer kaum COVID-Tote. Im Oktober waren es über 4’000. In der ersten Hälfte von November waren es fast 5’000.
Arzt Christoph Schmidli rät im Film allen, den Test nicht zu machen, denn “er bringt ja nichts ausser Ärger und Probleme”. Solchen Rat haben sich auch die Hochzeitsgäste in Schwellbrunn zu Herzen genommen. Sie haben vereinbart, keine Tests zu machen, und haben sich selbst bei Symptomen nicht in Quarantäne begeben. Das Dorf wurde zu einem Corona-Hotspot (Artikel).
Und zum Schluss noch dies
Wenn wir das Virus sich ungehindert verbreiten lassen, werden weltweit Millionen sterben, noch mehr längerfristig gesundheitlich beeinträchtigt sein, und die Wirtschaft und Existenzgrundlagen werden schwer leiden. Lockdowns können wir verhindern mit einer Kombination von wenig einschneidenden Massnahmen:
- Testen
- Kontakte Infizierter verfolgen und isolieren (die SwissCovid-App hilft)
- Masken tragen
- Handhygiene
- Kontakte vermeiden (inkl. Home-Office, wo möglich)
- Längeren Aufenthalt in schlecht belüfteten Innenräumen mit vielen Menschen vermeiden
Solche Massnahmen müssen auch beibehalten werden, wenn Fallzahlen tief sind. Sonst wachsen sie nämlich wieder exponentiell und dann werden Lockdowns nötig, die wir alle vermeiden wollen.
Wenn wir diese Massnahmen durchhalten, bis Impfungen verfügbar sind, können wir verhindern, dass Gesundheit und Wirtschaft Schaden nehmen. Und ein fast normales Leben führen.