Unsere Politiker sind völlig überfordert, weil sich das lästige Virus nicht an die Regeln hält
Nach der Gesundheitskommission und der Wirtschaftskommission forderte auch eine Mehrheit des Gesamtnationalrates eine schnelle und weitgehende Öffnung ab dem 22. März — und zwar unabhängig von der epidemiologischen Lage.
Dabei scheint sich kaum jemand Gedanken dazu gemacht zu haben, was ein solcher Schritt bedeuten würde. Das liegt einerseits an Inkompetenz und Selbstüberschätzung. Vielen Nationalräten fehlt ein grundlegendes Verständnis wissenschaftlicher Zusammenhänge. Man spürt auch eine gewisse Aversion gegen Mathematik. Realitätsfernes Wunschdenken spielt ebenfalls eine Rolle.
Die Angriffe auf die Wissenschaft und insbesondere auf die Mitglieder der Taskforce zeigen, dass noch weitere Effekte im Spiel sind. Wenn Kritiker über den “Machtrausch” der Taskforce schreiben, so verraten sie damit mehr über sich selbst als über die Wissenschaftler. Politiker können sich nicht vorstellen, dass jemand schlicht sein bestes Verständnis der Fakten und objektive Erwartungen für die Zukunft kommuniziert. Sie vermuten Hintergedanken. Denn in ihrer Welt sind Fakten bloss Rohmaterial, welches man beliebig interpretieren und verzerren kann, um die eigenen Interessen voranzutreiben. Man startet mit den Schlussfolgerungen, die eigenen Interessen dienen, und findet dann passende Datenpunkte, die man sich für Argumente zurechtbiegen kann. Derselbe Ansatz wird nun der Taskforce unterstellt. Das ist eine Projektion.
Hat die Taskforce überhaupt Entscheidungen treffen können? Gefolgt ist der Bundesrat ihren Empfehlungen nämlich kaum. Ihre Macht ist also viel zu beschränkt, als dass man sich an ihr berauschen könnte.
So empfahl die Taskforce bereits im Mai 2020, in Tests und Kontaktverfolgung zu investieren. Der Bundesrat ignorierte diesen Rat; kein anderes europäisches Land baute in der Folge Tests so wenig aus wie die Schweiz. Im Juli drängte die Taskforce zu “sofortigem Handeln”, um eine zweite Welle abzuwenden. Sie wurde erneut ignoriert, selbst als tägliche Fälle Anfang Oktober innert einer Woche von 500 auf 1'500 anstiegen. Anschliessend sorgte sich die Taskforce um die Auslastung der Intensivstationen und hielt geltende Massnahmen auf Bundesebene für unzureichend. Ihr Rat wurde erneut in den Wind geschlagen. Nur dank kantonaler Massnahmen in der Westschweiz und Verschiebung von Wahleingriffen konnte eine Überlastung vermieden werden. Die Spitäler waren trotzdem am Limit; die zertifizierten Intensivbetten waren Mitte November vollständig besetzt.
Seit dem Herbst ist die Taskforce unglaublich zurückhaltend aufgetreten. Taskforce-Leiter Ackermann gab sich grösste Mühe, auf keinen Fall den Bundesrat oder beschlossene Massnahmen zu kritisieren. Selbst wenn er direkt gefragt wurde und derartige Kritik durchaus angebracht gewesen wäre — aus rein objektiver wissenschaftlicher Sicht.
Trotzdem fordert die Wirtschaftskommission des Nationalrates nun einen Maulkorb für die Taskforce. Ihren Mitgliedern soll verboten werden, sich in der Öffentlichkeit zu äussern. Wie kommen die Nationalräte auf solche Ideen?
Sie empfinden die Taskforce vermutlich als lästig. Sie nimmt den Politikern die Interpretationshoheit. Und sie stellt ihre Autorität in Frage. Das kann sich die Politik nicht gefallen lassen. “Wir sind hier die Herren im Haus! Wir lassen uns doch von diesen Wissenschaftlern nicht vorschreiben, was wir zu tun haben! Die sind ja nicht mal gewählt!” Minderwertigkeitsgefühle und Ressentiments gegenüber intellektuellen Eliten scheinen hier auch ein Ventil zu finden.
Die Nationalräte schiessen damit auf die Boten. Die Quelle ihrer Frustration ist aber eigentlich das Virus selbst. Es ist frech und unanständig. Unkooperativ, weil es nicht mit sich verhandeln lässt. Und die Autorität der gewählten Räte scheint es auch nicht zu akzeptieren, klar ein Zeichen mangelnden Respekts.
Das sind sich unsere Politikerinnen und Politiker nicht gewohnt. Sie können die Pandemie nicht so angehen, wie sie das bei anderen Themen üblicherweise tun würden. Das Virus hält sich nicht an die Regeln. Dies führt zu Unverständnis und Überforderung.
Ein Umdenken ist gefragt. Unsere Politiker müssen endlich lernen, mit Folgendem umzugehen:
Das Virus ist zeitlich unflexibel
Andere Geschäfte können immer wieder vertagt werden. Einen Rahmenvertrag mit der EU kann man auf Eis legen, vielleicht für Jahre, wie das vorgeschlagen wurde. Scheitert eine Initiative, so versucht man’s eben ein paar Jahre später wieder in leicht anderer Form. Die Schweiz hat Zeit.
Das Virus ist leider zeitlich unflexibel. Es zeigt eher die Schweizer Tugenden von Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Es schreitet unbeirrt und sehr berechenbar voran. Es wartet nicht ab, während wir dies tun.
Das bereitet unseren Politikern Mühe. Selbst wenn ihnen vorgerechnet wird, was zu erwarten ist, sind sie unwillig, dies zu akzeptieren. So viel Berechenbarkeit ist ihnen unheimlich. Sie müssen es mit eigenen Augen sehen, bevor sie’s glauben.
Das Virus verhält sich nicht linear
In praktisch allen anderen Bereichen ist ein Politiker mit linearen Veränderungen konfrontiert. Alles bewegt sich nur ein bisschen. Und dann reagiert man ein bisschen. Alles überschaubar. Nichts wächst plötzlich exponentiell. Weder Wähleranteile noch Projektkosten oder die Zahl der Anrufe von Lobbyisten.
Beim Virus ist das ganz anders. Da wird das Problem innerhalb eines Monats plötzlich vierzigmal grösser (so geschehen mit den täglichen Fallzahlen vom 29. September bis zum 29. Oktober 2020). Das kann der Politiker noch immer nicht glauben, selbst wenn wir es bereits erlebt haben.
Und so hören wir Vorschläge, es würde doch reichen, schlicht die Anzahl der Spitalbetten entsprechend Bedarf zu erhöhen. Das ist eine lineare Denkweise. 10% mehr Spitalbetten kann man vielleicht noch organisieren. Aber vierzigmal mehr Spitalbetten innerhalb eines Monats? Und einen weiteren Monat später 1'600-mal mehr Spitalbetten?
Solche Beispiele werden schnell als überzogene Panikmache zurückgewiesen. So auch Ende September, als die deutsche Bundeskanzlerin Merkel — eine Politikerin, die sich als promovierte Physikerin mit wissenschaftlicher Denkweise auskennt — vorrechnete, wie Fallzahlen bei gleichbleibender Wachstumsrate 19'200 Fälle pro Tag erreichen würden bis Ende Jahr. “Panikmache”, “Horrorzahl”, “Luft-Nummer”, “purer Alarmismus” — mit solchen Vorwürfen reagierten Teile der Presse. Deutschland erreichte die von Merkel genannten Fallzahlen bereits Anfang November, sogar noch deutlich schneller als in ihrer Beispielrechnung.
Die täglichen Fallzahlen in der Schweiz steigen nun wieder leicht an. Wir wissen, dass sich die Virusverbreitung exponentiell verhält. Doch weiterhin scheinen dies viele Politiker nicht zu verstehen oder nicht verstehen zu wollen.
Wer jetzt nach Öffnungen schreit und meint, wir könnten ja dann reagieren, falls die Fallzahlen wieder deutlich ansteigen, hat weiterhin gar nichts dazugelernt und denkt immer noch linear.
Das Virus schert sich nicht um Verhältnismässigkeit
Verhältnismässigkeit sei wichtig, wird immer wieder gesagt. “Nur so viel wie nötig, so wenig wie möglich.” Doch bei einem Virus, welches sich exponentiell verbreitet und dessen Auswirkungen sich erst Wochen nach einer Infektion in den Spitälern zeigen, kann man nicht schrittweise und verhältnismässig reagieren. Das Virus schert sich nicht um Verhältnismässigkeit.
In einer Notlage, in der zögerliches Handeln gravierende Konsequenzen haben kann, ist Verhältnismässigkeit total fehl am Platz.
Wenn der Christbaum brennt, sagt auch niemand “Also der Feuerlöscher wäre jetzt unverhältnismässig, vielleicht reicht ja eine Schüssel mit Wasser. Versuchen wir’s erst damit und warten ein bisschen ab und beobachten.”.
Wenn der Onkel einen Herzinfarkt erleidet, sagt auch niemand “Also eine Ambulanz zu rufen wäre jetzt unverhältnismässig, vielleicht erholt er sich ja wieder. Soll sich mal hinsetzen und einen Schluck trinken, vielleicht reicht das ja.”.
Und wenn der Rest der Skigruppe unter einer Lawine verschüttet ist, sagt auch niemand “Also Rettungskräfte aufzubieten wäre jetzt unverhältnismässig. Vielleicht graben sich die ja selbst wieder da raus.”.
In all diesen Fällen ist “nur so viel wie nötig, so wenig wie möglich” der völlig falsche Ansatz.
Wir müssen schnell und entschieden reagieren. Ja, damit machen wir eventuell zu viel und hätten es vielleicht auch mit etwas weniger geschafft. Doch geht es hier nicht darum, Aufwände für den besten Fall zu minimieren. Nein, es geht darum, Schaden zu begrenzen in allen Fällen.
Auf die Schweizer Bevölkerung gerechnet, hatte Neuseeland bisher 44 Corona-Tote. In der Schweiz sind es über 9'000, über zweihundertmal mehr! Und seit Juni geniessen die Neuseeländer ein fast vollständig normales Leben, ebenfalls ein starker Kontrast zur Situation in der Schweiz.
Neuseeland verhängt sofort kurze, regionale Lockdowns, wenn auch nur schon einzelne positive Fälle auftreten. Ist das verhältnismässig? Nein, überhaupt nicht! Verhältnismässig wäre, erst mal gar nichts zu machen, sind ja nur ein paar positive Tests. Erreicht man tausende Fälle pro Tag, so wären dann ein paar schüchterne Massnahmen verhältnismässig. Erst wenn die Spitäler überlastet sind und Tausende sterben, dann wäre ein Lockdown verhältnismässig. Möchten die Verfechter der Verhältnismässigkeit tatsächlich behaupten, dass es Neuseeland mit so einem Ansatz besser ergangen wäre?
Das Virus lässt sich nicht täuschen
Wähler kann man mit Fehlinformationen täuschen. Das funktioniert auch häufig, sogar in einer Pandemie. So schwärmte beispielsweise ein Gast in einem Hotel in Arosa vor laufender SRF-Kamera “Die Schutzmassnahmen sind so gut, dass man sie gar nicht merkt.”. Hotelgästen kann man eine falsche Sicherheit vorgaukeln mit “Schutzkonzepten”.
Dem Virus ist ein Papier irgendwo in einer Schublade aber völlig egal, es lässt sich dadurch nicht täuschen. Für das Virus zählen nur tatsächlich umgesetzte Schutzmassnahmen, die auch wirksam sind.
Leider hapert es sowohl bei der Entwicklung der Schutzkonzepte als auch bei deren Umsetzung. Viele Konzepte ignorieren weiterhin die Virusverbreitung durch Aerosole. Sie beschränken sich auf Empfehlungen zu Abstand und regelmässigem Händewaschen. Das reicht leider nicht aus. Und umgesetzt werden Schutzkonzepte üblicherweise mehr schlecht als recht:
Dem Wirt waren der Inhalt der Schutzkonzepte seines Branchenverbandes und die Vorgaben des “Beizen für Büezer”-Programms nicht mal bekannt.
Wenn Politik und Wirtschaftsverbände fordern, wir könnten nun alles öffnen, denn es gäbe ja Schutzkonzepte, so scheinen die “Schutzkonzepte” reine Alibi-Übung zu sein. Sie sind lediglich ein rhetorisches Mittel, um möglichst schnell wieder den Normalbetrieb aufnehmen zu können. Die Wirksamkeit und konsequente Umsetzung der Schutzkonzepte ist dabei zweitrangig. Darauf konzentriert sich niemand, denn sind Geschäfte wieder geöffnet, ist das Ziel ja erreicht.
Das ist eine sehr kurzfristige Denkweise, die leider dazu führt, dass Fallzahlen weiterhin ansteigen und Restaurants noch viel länger werden geschlossen bleiben müssen.
Das Virus lässt sich nicht beeindrucken
Immer wieder hört man Behörden erklären, wie viel gearbeitet wurde. Wie viele Schutzkonzepte man geprüft hätte. Wie viele übers Wochenende an Impfplänen gearbeitet hätten. Wie viele Telefongespräche das Contact Tracing führe.
Davon lassen sich wiederum vielleicht die Wähler beeindrucken. Dem Virus ist das aber völlig schnuppe. Es vergibt keine Fleisspunkte oder hält sich aus Rücksicht etwas zurück.
Für das Virus zählt nur, was auch tatsächlich etwas bewirkt. Deshalb sollten sich unsere Politiker nicht dafür auf die Schultern klopfen lassen, wie viel Zeit investiert wurde. Nein, Ergebnisse verdienen unsere Beachtung und daran sollten wir unsere Behörden messen: Wie viele Ansteckungen fanden trotz Schutzkonzepten statt? Wie können wir diese Zahl senken? Wie viele Menschen wurden schon geimpft? Wie können wir diese Zahl erhöhen? Wie viele Infektionsketten konnten dank Contact Tracing unterbrochen werden? Welcher Anteil der Kontakte ist wie schnell in Quarantäne? Wie können wir noch schneller noch mehr Kontakte erreichen?
Die Ergebnisse werden viel zu wenig diskutiert. Oder gar aktiv unter den Teppich gekehrt. Beispielsweise bei den Schulen, wo sich Ausbrüche häufen, aber keine Zahlen veröffentlicht werden. So können wir das Virus nicht unter Kontrolle bringen.
Je schneller unser Räte und Behörden einsehen, dass die Coronavirus-Pandemie nicht mit “business as usual” bewältigt werden kann, desto eher gelingt uns eine Rückkehr zur Normalität. Leider scheinen wir uns “gegenläufig” zu bewegen, wie Frau Gössi sagen würde. Mehr und mehr scheinen sich Politiker auf altbewährte Methoden des Wahlkampfes zu verlassen. Die Eindämmung der Pandemie muss in den Hintergrund treten, um Platz zu machen für Profilierungsversuche mit kurzem Zeithorizont.
Dabei fehlt vielen Politikern ein grundlegendes Verständnis der Dynamik der Virusverbreitung. Sie verlassen sich auf Intuition und Abschätzungen, die auf linearem Denken basieren. So erklärte beispielsweise Ständerat Ruedi Noser, ein Lockdown sei nicht mehr nötig, weil von den unter 70-Jährigen nur 0.4% der Betroffenen “Probleme hätten”.
Was er mit “Probleme haben” meint, bleibt unklar. Auf die Langzeitfolgen einer Coronavirus-Infektion kann er sich nicht beziehen, denn da liegen die Zahlen im zweistelligen Prozentbereich. Um Krankheitssymptome kann es auch nicht gehen, da liegen die Zahlen ebenfalls höher. Vielleicht bezieht er sich auf Hospitalisationen? Auch da läge er falsch. Da wäre der “Problem-Anteil” bei den unter 70-Jährigen gemäss meinen Berechnungen über 0.6% — und Hinweise aus anderen Ländern lassen unterdessen vermuten, dass dieser Anteil bei B.1.1.7 steigt.
0.6% hört sich nach einer kleinen Zahl an. “Unproblematisch”, denkt sich da der Politiker. Und das stimmt vermutlich auch in den meisten Fällen, in denen er mit derartigen Zahlen konfrontiert ist. Beim Virus ist es anders. Was in unseren Spitälern geschehen würde bei einer schnellen und vollständigen Öffnung — selbst wenn 80% der über 70-Jährigen bereits geimpft wären — habe ich hier durchgerechnet. Ich möchte diesen Artikel Herrn Noser gerne zur Lektüre empfehlen.