Warum leugnen Bundesrat und BAG weiterhin wissenschaftliche Fakten?
Die Wissenschaft hat uns innert Kürze eine Fülle von Erkenntnissen geliefert zu unterdessen zahlreichen Varianten des neuen Coronavirus. Ihre krönende Errungenschaft ist die Impfung: In weniger als einem Jahr entstanden gleich mehrere, hochwirksame und sichere Impfstoffe.
Weniger erfolgreich war die Wissenschaft bei der Vermittlung der Zusammenhänge an Regierungen, Behörden und die breite Bevölkerung. Letzteres lag auch insbesondere daran, dass die Mittelsmänner — Politik, Behörden und Medien — oft mehr Verwirrung als Klarheit gestiftet haben.
Aktuellstes Beispiel des Medienversagens zur Illustration:
Der Mangel an klarer Kommunikation führte dazu, dass fundamentale Aspekte von grossen Teilen der Bevölkerung weiterhin nicht verstanden werden.
Hier möchten wir uns insbesondere die Rolle von Bundesrat und BAG genauer anschauen. Sie stellen immer noch wissenschaftliche Fakten in Abrede, die bereits seit Monaten weltweit bekannt sind — in mehreren Bereichen. Es folgt eine Übersicht der wichtigsten.
Händewaschen
Regelmässiges Händewaschen hat stets die Hauptrolle gespielt in praktisch allen “Schutzkonzepten”. Der “Leitfaden für die Volksschule des Kantons Bern zum Schuljahr 2020/21” beispielsweise machte das bereits auf der Titelseite unmissverständlich klar:
Gegen gute allgemeine Hygiene ist nichts einzuwenden; ich möchte niemanden von regelmässigem Händewaschen abhalten. Unter den Schutzmassnahmen vor SARS-CoV-2 ist das Händewaschen aber eine der am wenigsten wirksamen. Bereits seit mehr als einem Jahr ist in der Wissenschaft bestens bekannt, dass sich das Coronavirus selten via Oberflächen überträgt.
Trotzdem vermitteln unsere Behörden weiterhin den Eindruck, man sei auf der sicheren Seite, solange man andere nicht berührt und sich ausserhalb ihrer Spuckdistanz bewegt. Das ist schlechter Rat. Wer sich zusammen mit einer infektiösen Person über einen längeren Zeitraum in einem Innenraum aufhält, geht ein grosses Risiko ein, sich anzustecken — selbst wenn man sich stets mehrere Meter von anderen Menschen fernhält und alle paar Minuten zum Händedesinfektionsmittel greift.
Etliche Ausbrüche an Veranstaltungen zeigen das immer wieder auf. Weder am Chorkonzert noch beim Jodelmusical geben sich alle die Hand. Das Virus verbreitet sich über die Luft.
Trotzdem wird Händewaschen weiterhin als die allerwichtigste Massnahme positioniert. Dies vermittelt den Eindruck, dass Handhygiene ausreicht. Alle können das Gefühl haben, etwas zu unternehmen, um sich und andere zu schützen. Beizer und Veranstalter haben ihre Pflicht getan, wenn ein Desinfektionsmittelspender am Eingang steht. Viel wichtigere Schutzmassnahmen erhalten wenig bis gar keine Beachtung. Und so veranstalten wir ein Hygienetheater anstatt uns mit einfachen Massnahmen wirksam zu schützen.
Bundesrat Berset verkündete noch Ende November an einer Pressekonferenz, das Virus übertrage sich hauptsächlich über die Hände. Wenn ein Gesundheitsminister nach bald zwei Jahren Pandemie noch nicht verstanden hat, wie das Virus von einem Wirt zum nächsten springt, stellt sich die Frage, welche anderen grundlegenden Zusammenhänge er verpasst hat.
Aerosole
Seit mehr als einem Jahr ist es wissenschaftlich völlig klar, dass Aerosole der Hauptübertragungsweg für das Coronavirus sind. Hält man sich über längere Zeiträume mit anderen Menschen in schlecht belüfteten Innenräumen auf, so ist Abstand völlig irrelevant. Das Virus verteilt sich auf den ganzen Raum.
Nur versteht das weiterhin kaum jemand. Was daran liegen könnte, dass weder Bundesrat noch BAG das jemals unmissverständlich kommuniziert haben.
Das BAG behauptete auf seiner Website monatelang “Nach einer Distanz von 1,5 Metern verdünnen sich Aerosole. Dadurch sind die Viren weniger konzentriert, was das Risiko für eine Übertragung stark mindert. Ansteckungen durch Aerosole kommen deshalb nicht häufig vor.”.
Im Juli erfolgte eine Aktualisierung. Nach der Empfehlung, “Hände regelmässig gründlich zu waschen” (natürlich), schrieb das BAG nun neu “Sorgen Sie zudem in Innenräumen für eine gute Durchlüftung, um sicherzustellen, dass Übertragungen des Coronavirus durch Aerosole selten bleiben.”.
Diese Formulierung scheint sehr sorgfältig gewählt worden zu sein. Man kann sich vorstellen, wie sich eine Gruppe von Bürokraten über mehrere Sitzungen den Kopf zerbrochen hat darüber, wie sie der Bevölkerung die richtigen Verhaltenshinweise geben kann, ohne ihren eigenen früheren Aussagen widersprechen zu müssen. Diese Formulierung schafft das.
Die nächste Version lautete “Das Coronavirus wird im Allgemeinen bei einem engen und längerem Kontakt zu einer infizierten Person durch Tröpfchen und Aerosole übertragen.”. Auch dies ist streng genommen nicht falsch, vermittelt aber weiterhin nicht die Information, dass Aerosole den Hauptübertragungsweg darstellen.
Hier wird bewusst mit Sprache gespielt, um falsche Eindrücke zu erwecken, ohne direkt zu lügen. “Opa Köbi und Elon Musk haben gemeinsam ein Vermögen von über 300 Milliarden Dollar!” hatte ich als Analogie genannt. Genau genommen auch nicht falsch. Aber irreführend. Denn hier wird suggeriert, Opa Köbi sei steinreich, was er nicht ist.
Auch bei den Antworten zu häufig gestellten Fragen auf der BAG-Website kommen sprachliche Tricks zum Einsatz:
Keiner dieser Sätze ist einzeln betrachtet falsch. Aber insgesamt vermittelt die Antwort den Eindruck, dass nur in der Nähe einer anderen Person Gefahr besteht und Abstand als Vorsichtsmassnahme ausreicht. Dass man sich auch mehrere Meter weit entfernt auf der anderen Seite des Raumes anstecken kann, versteht der Leser hier nicht. Eine Ansteckung ist sogar noch möglich, wenn die infektiöse Person den Raum längst verlassen hat.
Die Sprachakrobatik lässt vermuten, dass hier Gesichtswahrung der Behörde im Vordergrund steht. Sie geht auf Kosten der Gesundheit der Bevölkerung. Das BAG kann sich weiterhin nicht dazu durchringen, endlich Klartext zu sprechen in Bezug auf Aerosole und frühere Aussagen zu revidieren.
Selbst der Faktenchecker in der “Arena” vom 19. November wich nicht ab von der BAG-Linie und sagte “Die Aerosole spielen eine wichtige Rolle bei der Übertragung. Es ist nicht ganz klar, wie gross sie wirklich ist. Das kann unter Umständen auch variieren.”. Rücksicht auf die Behörde schien wichtiger als verständliche Erläuterung des wissenschaftlichen Konsenses.
Unsere Medien könnten hier einspringen und die Bevölkerung aufklären. Doch erinnere ich mich nur an ganz wenige Beiträge zum Thema. Beispielsweise an diesen Artikel in der NZZ am Sonntag aus dem Juli, der hart ins Gericht ging mit dem BAG. Oder an diesen Beitrag des Kassensturz von Mitte November.
Ja, auch die WHO war lange zögerlich bezüglich Aerosolen. Sie passte ihre Position jedoch Ende April 2021 an. Sieben Monate später steht das beim BAG weiterhin aus.
Andere Länder sind hier deutlich weiter. In Grossbritannien beispielsweise erklärt der National Health Service die Rolle von Aerosolen und gibt Verhaltensempfehlungen mit diesem leicht verständlichen Spot:
Masken
Die Beziehung des BAG mit den Masken war schon immer eine schwierige. In der Anfangsphase der Pandemie im Frühling 2020 wurde noch behauptet, Masken nützten nichts. Das blieb bei vielen hängen und erschwerte später die Einführung einer Maskenpflicht.
Nun hat der Bundesrat diese Maskenpflicht wieder ausgeweitet. Das ist sinnvoll. Leider werden aber oft wenig wirksame Masken verwendet — weil das BAG diese empfiehlt und von besser schützenden Masken abrät.
Anfang Jahr sahen die Empfehlungen des BAG noch folgendermassen aus:
Von wirkungsvollen FFP2- und FFP3-Atemschutzmasken wurde abgeraten. Stattdessen empfahl das BAG unter anderem selbstgebastelte Stoffmasken. Gegen Viruspartikel in Aerosolen richten diese praktisch nichts aus.
Heute schreibt das BAG “Im Allgemeinen gilt: Tragen Sie eine Maske, wenn Sie nicht zu Hause sind und den Abstand zu anderen Personen nicht durchgehend einhalten können.”. Auch hier wird wiederum suggeriert, dass eine Maske unnötig ist, wenn man Abstand halten kann. Aerosole existieren nicht in der Schweiz.
Bezüglich FFP2/FFP3-Atemschutzmasken rät das BAG nun Folgendes: “Zusammengefasst bedeutet das: In Alltagssituationen schützen Atemschutzmasken daher nicht unbedingt besser als Hygiene- oder Community-Masken. Für den privaten Gebrauch sind Atemschutzmasken daher nicht notwendig. Auch in der aktuellen Situation mit der Ausbreitung der neuen Virusvarianten sind im privaten Gebrauch keine Atemschutzmasken nötig.” (Und ja, der hervorgehobene Satz erscheint auf der BAG-Website in fetter Schrift.)
Zudem wird unnötig Angst gemacht vor diesen Masken: “Da eine Atemschutzmaske eng anliegen muss, wird die Atmung der Trägerin/des Trägers beeinträchtig (sic). Deshalb sind regelmässige Pausen während des Tragens nötig.”
Jeder, der regelmässig solche Masken über mehrere Stunden trägt (und dazu gehört etliches Spitalpersonal), weiss, dass das gut geht und die Atmung kaum beeinträchtigt. Wissen Sie, was die Atmung beeinträchtigt? Eine Coronainfektion!
Und wieder kommt die Mär der falsch getragenen Maske: “Bei Atemschutzmasken, wie FFP2-Masken, ist die Zuverlässigkeit und gewünschte Schutzwirkung nur gewährleistet, wenn die Maske optimal an die Gesichtsform angepasst ist und korrekt getragen bzw. gehandhabt wird.”
Erstens schützt selbst eine nicht richtig sitzende FFP2/FFP3-Maske in vielen Fällen besser als eine chirurgische Maske (ob korrekt oder falsch getragen). Und zweitens ist die Wichtigkeit des korrekten Tragens noch lange kein Grund, von der Nutzung solcher Masken abzuraten. Man kann der Bevölkerung doch schlicht erklären, wie man eine Maske der passenden Grösse auswählt und sie richtig anzieht. Wir trauen der Bevölkerung doch auch viel komplexere Fertigkeiten zu. Von Schuhebinden über Autofahren bis zum Ausfüllen einer Steuererklärung — alles deutlich schwieriger als das richtige Tragen einer Atemschutzmaske!
Hat das BAG jemals versucht, die sachgemässe Nutzung von Masken verständlich zu erklären? Beispielsweise mit Videos?
Selbst in Spitälern wird Mitarbeitern teilweise verboten, FFP2-Masken zu tragen, wie eine Recherche von 20 Minuten im Januar zeigte. Aktuelle Epidemie-Handbücher wie das des Universitätsspitals Basel zeigen, dass FFP2-Masken weiterhin nur bei “aerosol-produzierenden Massnahmen” getragen werden sollen. Ansonsten reichten chirurgische Masken.
Die Begründungen sind abenteuerlich und logisch nicht nachvollziehbar. “Bedenken Sie, dass Sie sonst gegenüber anderen Mitarbeitenden ein falsches Zeichen setzen und diesen das Gefühl geben, dass die chirurgische Maske nicht ausreichend schützt, was zu Verunsicherung führt und immer mehr Mitarbeitende zum Tragen einer FFP2-Maske bewegen könnte.”, stand in einer Weisung der Spital Thurgau AG vom 21. Januar. Wo kämen wir nur hin, wenn alle Mitarbeitenden sich selbst, ihre Kollegen und die Patienten besser schützen wollten?
Das Argument, dass FFP2-Masken nicht richtig getragen werden, wird ebenfalls entlarvt. Denn wer die Corona-Station verlässt, muss die FFP2-Maske ablegen und sie durch eine chirurgische Maske ersetzen. Ist das falsche Tragen der Masken auf der Corona-Station kein Problem, aber ausserhalb schon? Das ergibt null Sinn.
Mehrere Studien zeigen unterdessen deutlich, dass FFP2- und FFP3-Masken signifikant besseren Schutz bieten als chirurgische Masken — selbst wenn sie schlecht sitzen (sie korrekt zu tragen, erhöht den Schutz nochmals deutlich).
Maskenvorräte scheint es unterdessen auch genügend zu geben. Ich hatte in den letzten Monaten nie Schwierigkeiten, FFP2- und FFP3-Masken zu kaufen. Warum ist das BAG nicht ehrlich bezüglich der Wirkung verschiedener Maskentypen? Weshalb empfiehlt es nicht wenigstens FFP2-Masken? Warum macht der Bundesrat sie nicht obligatorisch in öffentlichen Innenräumen?
Kinder und Schulen
Monatelang wurde behauptet, Kinder seien vom Virus gar nicht betroffen. Das ist schlichtweg falsch. Ja, sie werden deutlich weniger häufig krank als Erwachsene. Aber sie geben das Virus genauso weiter. Das Mantra “Kinder sind keine Treiber der Pandemie.” ist völlig irreführend. Jeder, der das Virus an andere weitergibt, treibt die Pandemie an. Und aktuell geschieht das bei Kindern besonders häufig, wie Inzidenzen nach Altersgruppen und die zahlreichen Schulausbrüche zeigen.
Das hat unterdessen sogar Rudolf Hauri, der oberste Kantonsarzt, erkannt:
Die Kinder stecken einander in der Schule an (wir erinnern uns an Aerosole, die bei längerem gemeinsamem Aufenthalt in Innenräumen gefährlich werden) und tragen das Virus dann in die Familie. Die Eltern gehen ins Büro, sind vielleicht gar symptomlos, und geben das Virus an ihre Arbeitskollegen weiter (wiederum längerer Aufenthalt in Innenräumen…). Die bringen es dann wieder nach Hause zu ihren Kindern und so beginnt der Kreis von neuem.
Mit Tests und Quarantänen könnten wir diesen Kreis in vielen Fällen durchbrechen. Und mit Home Office und/oder Fernunterricht an Schulen könnten wir ihn vollständig zum Stillstand bringen.
Zudem werden wenige Kinder auch ernsthaft krank. “Long COVID” existiert ebenfalls bei Kindern. Inwiefern sich eine COVID-Infektion auf das Gehirn und seine Entwicklung sowie auf andere Organe auswirkt, ist noch nicht genügend erforscht, es gibt aber einige besorgniserregende erste Erkenntnisse.
Das ist alles schon lange bekannt. Trotzdem scheint es von einem Grossteil der Bevölkerung weiterhin nicht verstanden zu werden. Viele haben mehr Angst vor der Impfung ihrer Kinder als vor deren Ansteckung. Dabei ist die Infektion viel gefährlicher — nicht nur für die Kinder selbst, sondern insbesondere auch für ihr Umfeld.
Auch hier könnten Bundesrat und BAG besser über die Zusammenhänge aufklären. Würden diese verstanden, wäre vermutlich auch mit weniger Eltern zu rechnen, die vehement gegen Tests an Schulen protestieren und damit den Kantonen so sehr Angst und Schrecken einjagen, dass diese sich weigern, der bundesrätlichen Empfehlung der repetitiven Tests zu folgen.
Wirkung der Impfung
Kaum jemand scheint richtig einordnen zu können, was die Impfung wirklich bringt. Auf der einen Seite des Spektrums sind die, welche die Impfstoffe für wirkungslos oder gar gefährlich halten. Auf der anderen Seite die, welche sich nach einer Impfung für unverwundbar halten.
Beide Sichtweisen sind zu einfach und verpassen wichtige Nuancen. Die Impfungen wirken sehr zuverlässig gegen insbesondere schwere Erkrankung, aber der Effekt lässt über Zeit nach. Und Ansteckungen können sie nicht vollständig verhindern. Auch dieser Effekt reduziert sich, wenn die Impfung weiter zurückliegt.
Anstatt diese Zusammenhänge klar zu vermitteln, hat der Bundesrat wissenschaftliche Fakten per Entscheid festgelegt.
So beschloss er im Mai, dass Genesene und Geimpfte immun sind und die Krankheit nicht mehr übertragen.
Im Juni entschied er weiter, dass die Schutzdauer der Impfung 12 Monate beträgt.
Beide Entscheide sind absurd. Wissenschaftliche Fakten lassen sich nicht von einem politischen Gremium per Mehrheitsentscheid festlegen.
Auch bei den “Booster”-Drittimpfungen waren Entscheidungen aus wissenschaftlicher Sicht schwer nachzuvollziehen. Bereits Ende August zeigten Daten aus Israel, dass die Wirkung der Impfung über mehrere Monate nachlässt. Die Erkenntnisse wurden im September auch von Studien aus anderen Ländern bestätigt. Spätestens Anfang Oktober hätte aufgrund dieser Daten offensichtlich sein sollen, dass gerade ältere Menschen (die früh drangekommen waren beim Impfen, deren Zweitimpfung daher schon am längsten zurückliegt und bei denen zudem die Zahl der Antikörper am schnellsten abnimmt) vom zusätzlichen Schutz einer Drittimpfung profitieren würden.
Doch unsere Behörden liessen sich Zeit mit Zulassung und Empfehlung. Bundesrat Berset wollte sich nicht hetzen lassen von den Impfstoffherstellern. Die Kommunikation von BAG, Impfkommission und Swissmedic war widersprüchlich und verwirrend, insbesondere bei der Frage, für wen ein Booster erlaubt und empfohlen werde.
Noch am 11. November sprach sich Christoph Berger, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF), gegen einen Booster für unter 65-Jährige aus. “Es ist nicht erwiesen, dass die Auffrischungsimpfung für Jüngere etwas bringt.”, sagte er der NZZ. Bereits drei Tage später die Kehrtwende: In der Sonntagszeitung kündigte Berger an, man werde die Drittimpfung auch bald Jüngeren anbieten.
Doch sah er keinen Grund zur Eile. Es war schliesslich erst mal nationale Impfwoche und man wollte sich auf Erst- und Zweitimpfungen konzentrieren. Die Nachfrage war jedoch bescheiden, während Senioren auf der Suche nach einem Booster weggeschickt wurden. Auch auf der Mindestdauer von sechs Monaten zwischen zweiter und dritter Impfung wurde stur beharrt, auf den Tag genau.
Am 26. November schliesslich empfahlen EKIF und BAG die Auffrischimpfung auch allen Personen im Alter von 16–64 Jahren. Nun sollte es plötzlich schnell gehen, ein Kanton nach dem anderen wollte mit dem breiten Boostern starten. Doch leider ist dies vielen Kantonen gar nicht möglich. Weil Impfkapazitäten abgebaut worden sind, müssen sich unter 65-Jährige vielerorts bis ins nächste Jahr gedulden für ihren Booster, selbst wenn ihre Zweitimpfung schon mehr als sechs Monate zurückliegt.
Erneut zeigt sich ein Mangel an Weitsicht. Bereits im Frühling war klar, dass wir die Logistik für Auffrischungsimpfungen planen müssen. Sie sind nämlich unabdingbar nicht nur für den Schutz einzelner Menschen vor schwerer Erkrankung, sondern auch um die Verbreitung des Virus besser zu unterbinden. Jüngere, die selbst auch ohne Drittimpfung kaum erkranken würden, geben das Virus ebenfalls weniger weiter, wenn sie geboostert sind. Damit schützen sie insbesondere Ungeimpfte in ihrem Umfeld.
(Mit der Kinderimpfung droht sich dieselbe Tragödie des Zögerns nun übrigens zu wiederholen.)
Weshalb werden wissenschaftliche Fakten von Bundesrat und BAG nicht wahrheitsgemäss vermittelt? Weshalb gibt es diese zahlreichen Beispiele, bei denen wissenschaftlicher Konsens und Behördenkommunikation im Widerspruch stehen? Über Monate?
Ich sehe nur drei mögliche Erklärungsversuche für dieses Verhalten:
1) Taktik: Bundesrat und BAG verstehen die wissenschaftlichen Erkenntnisse sehr wohl. Doch befürchten sie, dass sich die Bevölkerung nicht wie gewünscht verhält, wenn sie diese Fakten kennt.
In der wohlwollenden Variante dieser Theorie möchte die Behörde verhindern, dass sich Menschen beispielsweise mit Masken in falscher Sicherheit wiegen und mehr Risiken eingehen. Doch dies ist schlicht nicht der Fall; der Schutzeffekt der Maske wird nicht durch riskanteres Verhalten überkompensiert und schlägt ins Negative. Das ist genauso Blödsinn wie die Theorie, dass Sicherheitsgurte im Auto mehr Unfälle zur Folge hätten, da sie zu einem aggressiveren Fahrstil animierten.
Bezüglich der Schutzdauer der Impfung ist zu vermuten, dass der Bundesrat befürchtete, Wissen um eine abnehmende Schutzwirkung und die Notwendigkeit einer dritten Impfung würde noch Ungeimpfte von einer Erstimpfung abhalten. Doch die meisten Skeptiker verweigern die Impfung unabhängig davon, ob sie aus einer, zwei oder drei Dosen besteht. Hier entstand durch Vorenthalten dieser Fakten also kaum ein Vorteil für die Impfquote. Das zögerliche Vorgehen bei den Boostern und die verwirrende Kommunikation haben aber den zusätzlichen Schutz der Boosterwilligen unnötig verzögert und gefährden damit Menschenleben.
Eine andere Variante dieser ersten Theorie geht dagegen davon aus, dass effiziente Schutzmassnahmen nicht klar kommuniziert werden, um eine Durchseuchung möglichst stark voranzutreiben. Im Glauben, dass damit eine Rückkehr zur Normalität schneller wieder möglich wird. In einer schwächeren Variante würden die Eindämmungseffekte dieser Schutzmassnahmen zwar begrüsst, aber die notwendigen Schritte für ihre Umsetzung abgelehnt (wegen Kosten, Beeinträchtigung von wirtschaftlicher Tätigkeit, etc.).
2) Inkompetenz: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse haben das BAG und den Bundesrat schlicht noch nicht erreicht oder werden nicht hinreichend verstanden. Es dauert eben einfach Monate oder gar Jahre, bis neue Informationen ihren Weg durch die Bürokratie finden.
3) Gesichtswahrung: Die Fakten werden zwar bestens verstanden, aber sie an die Bevölkerung zu kommunizieren, würde bedeuten, eigenen früheren Aussagen widersprechen zu müssen. Fehler einzugestehen. Das darf nicht geschehen. Daher muss man der Linie treu bleiben. Je länger man das tut, desto schwerer wird ein Umschwenken.
Oder es geht darum, eigenes Versagen zu verbergen. Dies scheint die Motivation gewesen zu sein, als im Frühling 2020 ganz abgeraten wurde von Masken und behauptet, sie nützten nichts. Tatsächlich waren schlicht nicht genügend Masken verfügbar und sie wurden dringend für das Spitalpersonal benötigt (interne Dokumente bestätigten dies später und Daniel Koch hatte sogar schon im März 2020 auf die Knappheit hingewiesen).
Teilweise wurde die Argumentation vollends absurd:
Ich kann leider nicht beurteilen, zu welchem Grad diese drei Erklärungsversuche das Verhalten prägen. Einige Hinweise (wie die erwähnte Sprachakrobatik bezüglich Aerosolen) lassen vermuten, dass Gesichtswahrung eine bedeutende Rolle spielt.
Klar ist, dass die erratische Kommunikation und der wiederholte Wortbruch Vertrauen in Institutionen nachhaltig schädigen. Die eine Seite bezichtigt den Bundesrat der Lüge, weil er die epidemiologische Lage verharmlose und Warnsignale herunterspiele. Die andere Seite sieht eine Verschwörung, weil der Bundesrat ein harmloses Virus zum Anlass nehme, Macht an sich zu reissen. Beide Seiten fühlen sich betrogen. Und leider haben beide recht, dass der Bundesrat nicht ehrlich ist mit der Bevölkerung.
Es ist nun höchste Zeit, dass Bundesrat und BAG diesen Spielchen ein Ende setzen und stattdessen wissenschaftliche Erkenntnisse offen und ehrlich kommunizieren. Die Gesundheit der Bevölkerung stellen sie ja angeblich immer an erste Stelle — und nicht etwa die Wahrung des eigenen Gesichts.