Was hat in der Schweiz oberste Priorität? — Gesundheit scheint es nicht zu sein
Unsere Bundesräte haben in den letzten Tagen betont, wie wichtig ihnen die Gesundheit der Bevölkerung ist — und wie zufrieden sie mit ihrer bisherigen Leistung und dem “Schweizer Weg” sind.
“Die Schweiz stellt die Gesundheit ihrer Bevölkerung immer an erste Stelle.”, sagt Guy Parmelin (Artikel). Die Abwägung zwischen gesundheitlichen Massnahmen und deren wirtschaftlichen Auswirkungen sei bisher nicht schlecht gelungen.
Alain Berset erklärt ”Es geht ums Gesamtbild. Aber die Gesundheit der Menschen hat oberste Priorität.” (Interview).
“Ich würde nicht von einem Tiefpunkt sprechen.”, sagt Simonetta Sommaruga. “Die Schweiz musste ihren eigenen Weg gehen.” (Interview)
Funktioniert der Schweizer Weg? Hat der Bundesrat die Gesundheit der Bevölkerung tatsächlich an erste Stelle gestellt? Schauen wir mal, wo die Schweiz steht im Vergleich zu anderen Ländern.
Die Negativ-Beispiele
Zwei Länder werden weltweit oft zitiert als Negativ-Beispiele für ihren Umgang mit dem Coronavirus: die Vereinigten Staaten und Schweden. Wie steht die Schweiz im Vergleich zu diesen beiden Ländern da?
Auf die Bevölkerung gerechnet sterben in der Schweiz im 7-Tage-Schnitt seit Anfang November jeden Tag mehr Menschen als in den USA. Über einige Wochen sogar mehr als doppelt so viele. Aktuell noch etwa ein Viertel mehr.
In der angeblich reichen und gut organisierten Schweiz mit einem hervorragenden Gesundheitssystem sterben deutlich mehr Menschen als in den USA an COVID. Mehr als in einem Land, dessen untätiger Präsident das Virus von Anfang an verharmlost hat, weiterhin Wahlkampfveranstaltungen mit Zehntausenden Besuchern abhielt und zur Behandlung einer Coronavirus-Erkrankung das Trinken von Bleichmitteln empfahl.
Unser Bundesrat erzielt schlechtere Resultate als Präsident Trump, dem die Gesundheit seiner Landsleute völlig egal zu sein scheint.
Schweden hatte auch einen sehr eigenen Weg gewählt. Das Land wollte bewusst keine Massnahmen ergreifen, damit sich das Virus ungehindert verbreiten kann und damit schnell Herdenimmunität erreicht wird. Das hat so leider überhaupt nicht geklappt und Schweden hat nach einer äusserst tödlichen ersten Welle eine anhaltende zweite Welle ebenfalls mit vielen Toten. Aber nicht so viele Tote wie die Schweiz. Auf die Bevölkerung gerechnet sterben in der Schweiz (wiederum im 7-Tage-Schnitt) seit Mitte Oktober jeden Tag deutlich mehr Menschen als in Schweden. Teilweise viermal mehr. Vergleiche der letzten paar Tage sind problematisch, da Schwedens Ansatz beim Melden der Todesfälle in den letzten etwa zehn Tagen unvollständige Werte liefert (Erklärung). Wie viele in den letzten Tagen genau gestorben sind, werden wir erst später wissen.
Unser Bundesrat erzielt schlechtere Resultate als ein Land, das bewusst und absichtlich möglichst viele Bürger anstecken wollte. Schweden hat sich unterdessen von dieser Strategie abgewandt und sogar der schwedische König gab zu, dass der Ansatz seines Landes gescheitert ist. Die Schweiz hat aktuell deutlich schlechtere Zahlen, aber unsere Regierung spricht nicht von Scheitern, sondern klopft sich selbst auf die Schultern.
Die Nachbarn
Wie steht die Schweiz da im Vergleich zu Nachbarländern?
Auf die Bevölkerung gerechnet, hatten Frankreich und Italien Ende Oktober und Anfang November ähnliche Todesfallzahlen wie die Schweiz. Frankreich hat die Zahlen unterdessen deutlich senken können, während die Schweizer Zahlen hoch bleiben. Italien hatte kurzzeitig etwas mehr Tote als die Schweiz, liegt nun aber wieder unter unseren Werten.
Österreich hatte lange tiefere Zahlen, seit Anfang Dezember sind die Zahlen nun aber deutlich höher. Deutschland hatte stets signifikant tiefere Todesfallzahlen als die Schweiz, holt nun aber auf.
Aber sind Vergleiche mit unseren direkten Nachbarn besonders relevant? Sie haben teilweise ähnliche Fehler gemacht. Zu spät reagiert, mit zu lockeren Massnahmen.
Wir sollten uns stattdessen mit den Ländern vergleichen, die’s besser gemacht haben und von denen wir etwas lernen könnten.
Die Vorzeige-Europäer
Welche Länder in Europa haben’s deutlich besser gemacht als die Schweiz?
Wir wählen drei Beispiele: Irland, Finnland und Norwegen. Alle drei haben seit Mitte November mindestens zehnmal weniger Tote als die Schweiz, wiederum auf die Bevölkerung gerechnet.
Irland hat ein klares Ampelsystem (Übersicht). Das Land hat schnell reagiert mit einem zweiten Lockdown und Fallzahlen rasch senken können. Zu den Massnahmen gehörten Home Office, Schliessung von Restaurants und Freizeiteinrichtungen, Reisebeschränkungen auch im Inland und Kapazitätsbeschränkungen im öffentlichen Verkehr.
Finnland und Norwegen haben schon bei tiefen Fallzahlen Massnahmen ergriffen, auch Quarantänevorschriften für Besucher aus dem Ausland.
Die Erfolgreichen weltweit
Eine Reihe von Ländern weltweit hat noch bessere Resultate erzielt als die erfolgreichsten europäischen Länder.
Dazu gehören Südkorea, Taiwan, Vietnam, Australien und Neuseeland. Ihre Todesfallzahlen sind so tief, dass sie in einer Graphik im Vergleich zu den Zahlen der Schweiz kaum sichtbar sind.
Taiwan meldet bisher insgesamt 7 Todesfälle. Vietnam 35. Neuseeland hatte über den ganzen Zeitraum der Pandemie bloss 25 COVID-Tote, den letzten im September.
Australien zählt bisher 900 Tote. Die Schweizer Bevölkerung ist dreimal kleiner als die Australiens, das entspräche bei uns also etwa 300 Toten. Wir haben aber schon über 22-mal mehr. Südkorea meldet 800 Todesfälle. Die Schweiz hat etwa fünfzigmal mehr Tote gerechnet auf die Bevölkerung.
Steht die Gesundheit der Bevölkerung in der Schweiz für den Bundesrat also wirklich an erster Stelle? Hat sie wirklich oberste Priorität?
Wenn das stimmt, dann sind unsere Bundesräte in Anbetracht der Resultate äusserst inkompetent. Aber ich befürchte, dass es nicht stimmt. Mit anderen Worten: Unser Bundesrat ist nicht ehrlich mit uns. Das gibt er sogar selbst zu, wenn er immer wieder von Abwägungen zwischen Gesundheit und Wirtschaft spricht.
Wenn die Gesundheit der Menschen wirklich oberste Priorität hätte, würde man dann mit Massnahmen zuwarten, bis die Intensivstationen voll sind?
Wenn die Gesundheit der Menschen wirklich oberste Priorität hätte, würde man dann der Bevölkerung wichtige Informationen zum Verhalten des Virus und wirksamen Schutzmassnahmen vorenthalten? Und die Rolle von Aerosolen und Ansteckungen in Innenräumen trotz Abstand monatelang totschweigen?
Wenn die Gesundheit der Menschen wirklich oberste Priorität hätte, würde man dann nicht auch über Langzeitfolgen sprechen wollen, sie besser verstehen und sie zu verhindern suchen?
Wenn die Gesundheit der Menschen wirklich oberste Priorität hätte, würde man dann nicht Testkapazitäten ausbauen, so dass es nicht zu mehrtägigen Wartezeiten kommt, bis man überhaupt einen Testtermin erhält?
Wenn die Gesundheit der Menschen wirklich oberste Priorität hätte, würde man dann nach zehn Monaten Pandemie weiterhin keine zuverlässige landesweite Kontaktverfolgung aufgebaut haben, um Infektionsketten durchbrechen zu können und weitere Ansteckungen zu verhindern?
Wenn die Gesundheit der Menschen wirklich oberste Priorität hätte, würde man sich dann auf Schutzkonzepte berufen, von denen man weiss, dass sie Ansteckungen nicht verhindern (selbst wenn sie eingehalten würden)?
Wenn die Gesundheit der Menschen wirklich oberste Priorität hätte, würde man dann Restaurants sofort wieder öffnen, wenn die Fallzahlen stagnieren?
Wenn die Gesundheit der Menschen wirklich oberste Priorität hätte, würde man dann Angestellte zwingen, weiterhin ins Büro zu gehen, wenn sie auch von zuhause arbeiten könnten?
Wenn die Gesundheit der Menschen wirklich oberste Priorität hätte, würde man dann die Rolle der Schulen nicht genauer verstehen wollen? Und Schulschliessungen oder Fernunterricht nicht im Vornherein ausschliessen?
Wenn die Gesundheit der Menschen wirklich oberste Priorität hätte, würde Bundesrat Parmelin dann als Schirmherr von “Die Schweiz fährt Ski” sich dafür einsetzen, “dass wir alles unternehmen damit die Leute Wintersport betreiben können.”?
Was hat für den Bundesrat tatsächlich oberste Priorität? Die Gesundheit kann es nicht sein. Denn wenn sie es wäre, müsste er sich ganz anders verhalten.
Daniela Lager fragte Bundesrat Berset letzte Woche im “Puls” (Video): “Etwas verstehen viele nicht, wie die Schweiz es zugelassen hat, dass es 6'202 Tote gibt wegen Corona. Viel, viel mehr als in vergleichbaren Ländern. Gegen was haben Sie das abgewogen? Gegen welche Interessen wurden diese Todesfälle abgewogen?”. Berset antwortete “Ich würde das schon bestreiten, viel mehr wie andere Länder nicht. Ich meine, schauen Sie mal Österreich.”. Lagers Frage blieb unbeantwortet.