Ist eine 50% ansteckendere Virusvariante wirklich so besorgniserregend? — Ja, noch viel mehr als man erst denkt.
Die neue Coronavirus-Variante, die in Grossbritannien ihren Ursprung hat (sowie eine ähnliche Variante aus Südafrika), soll 40–70% ansteckender sein als die Variante, mit der wir uns bisher rumschlagen. Die Schweizer Wissenschafts-Taskforce ging in ihren Modellrechnungen (Details hier) von 50% höherer Ansteckungswahrscheinlichkeit aus.
Ist das so ein grosser Unterschied? Ja, denn hier spielt eine Art Zinseszins-Effekt mit. Eine Ansteckung führt im Schnitt zu mehr Ansteckungen, die dann auch wieder zu mehr Ansteckungen führen, etc.
Was wäre schlimmer, eine 50% tödlichere Virusvariante oder eine 50% ansteckendere? Machen wir den Vergleich mit einem einfachen Modell.
Dieses Modell ist keine Prognose und es bezieht sich auch nicht auf eine bestimmte Situation in einem bestimmten Land. Es ist auch stark vereinfacht, so nehmen wir unter anderem anfänglich an, dass der R-Wert über die gesamte Periode konstant bleibt. In Realität verändert sich der R-Wert abhängig von Massnahmen und dem Verhalten der Bevölkerung. Es geht mir bloss darum, an einem vereinfachten Beispiel aufzuzeigen, wie sich die Dynamik ändert, wenn eine Mutation andere Eigenschaften aufweist.
Die Basis-Variante
Wir starten in diesem Modell an Tag null mit 100 Neuinfektionen. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass alles erst an diesem Tag beginnt; es gab vorher noch keine Ansteckungen. Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass 100 infizierte Skitouristen in ein bisher nicht betroffenes Land eingereist sind.
Wir gehen von einem R-Wert von 1.1 aus. Nach im Schnitt fünf Tagen stecken die 100 Personen also 110 neue Leute an. Weitere fünf Tage später sehen wir 121 Neuansteckungen.
Zudem nehmen wir an, dass 1.0% der Angesteckten sterben und zwar im Schnitt drei Wochen, nachdem sie positiv getestet wurden.
Mit diesen Annahmen ergibt sich über 90 Tage folgendes Bild:
Die Fälle steigen nach 90 Tagen auf über 550 pro Tag an. Am Ende dieser Periode sterben 4 Menschen pro Tag. Weil man so kleine Zahlen hier kaum sehen würde, zeigen wir stattdessen die kumulativen Todesfälle an, die Zahl der Menschen, die insgesamt bis zum jeweiligen Tag gestorben sind. Hier sind es 145 Menschen bis zum Tag 90.
Die 50% tödlichere Variante
Vergleichen wir die Basis-Variante nun mit einer Mutation, die 50% tödlicher ist. Es sterben also nicht nur 1.0% der Angesteckten, sondern 50% mehr, 1.5%.
Nun sieht die Entwicklung so aus:
Die täglichen Fälle bleiben gleich wie bei der Basis-Variante. Das Ansteckungsverhalten des Virus hat sich nämlich nicht verändert. Aber mehr Menschen sterben. Am Ende der Periode sterben nun 6 Menschen pro Tag, 50% mehr als die 4 pro Tag mit der Basis-Variante. Insgesamt sterben 218 Menschen bis zum Tag 90, 50% mehr als die 145 mit der Basis-Variante.
Ein 50% tödlicheres Virus bedeutet also 50% mehr Tote. Das scheint Sinn zu ergeben.
Die 50% ansteckendere Variante
Widmen wir uns nun einer Variante, die 50% ansteckender ist, wie das bei den neuen Mutationen aus Grossbritannien und Südafrika in etwa der Fall zu sein scheint.
Hier erhöht sich der R-Wert von 1.1 um 50% auf 1.65. Nach im Schnitt fünf Tagen stecken die 100 ursprünglich Infizierten also 165 Menschen an statt nur 110 bei der Basis-Variante. Weitere fünf Tage später sehen wir 272 neue Fälle.
Wie bei der Basis-Variante gehen wir davon aus, dass 1.0% der Infizierten drei Wochen nach ihrem positiven Test sterben.
Die Entwicklung der Zahlen sieht nun folgendermassen aus:
Die Fallzahlen steigen hier so schnell an, dass wir die Skala abschneiden mussten. Am Tag 90 hätten wir 821'000 neue Fälle. So weit würde es in einem Land wie der Schweiz in Realität natürlich nie kommen. Nicht nur, weil längst Massnahmen ergriffen worden wären, sondern auch, weil es gar nicht genug Menschen zum Anstecken gäbe. Die Fallzahlen müssten also selbst ohne Massnahmen abflachen.
Am Tag 90 sterben etwa 1'000 Menschen. Sie gehören zu den 100'000, die an Tag 69 (drei Wochen vorher) positiv getestet wurden. Bis zum Tag 69 hätten sich ein bisschen mehr als eine Million Menschen angesteckt, das wäre in der Schweiz durchaus noch realistisch.
Von dieser Million Menschen sterben bis am Tag 90 insgesamt etwa 10'000. Genau gerechnet sterben mit dieser Variante bis zum 90. Tag 72-mal mehr als mit der Basis-Variante.
Ein 50% ansteckenderes Virus bedeutet also ein Vielfaches an Toten. Es ist damit viel, viel tödlicher als ein Virus, das bloss zu 50% höherer Fallsterblichkeit führt. Aussagen wie “Wenigstens führt die neue Variante nicht zu schwereren Verläufen.” sind daher mit Vorsicht zu geniessen. Ja, es wäre noch schlimmer, wenn sie das auch täte zusätzlich zur höheren Ansteckungsrate. Aber eine Variante, die nur tödlicher ist und nicht ansteckender, wäre insgesamt weniger gefährlich.
Vergleich der drei Varianten
Im Vergleich sehen die Todesfallzahlen der drei diskutierten Varianten so aus:
Diese Übersicht macht sehr deutlich, wie besorgniserregend eine signifikant ansteckendere Mutation ist.
Der Effekt von Massnahmen
Nehmen wir nun an, dass am Tag 40 Massnahmen ergriffen werden, die eine Woche später ihre Wirkung zu zeigen beginnen bei den Fallzahlen. Wenn es uns zum Beispiel gelingen würde, den R-Wert um 30% zu senken durch Kontaktreduktionen, würde das bei der Basis-Variante R von 1.1 auf 0.77 senken.
Die täglichen Fälle und die Todeszahlen würden sich so entwickeln:
Wir könnten Fallzahlen deutlich senken. Und damit auch die Kurve der Toten abflachen. 107 würden sterben bis Tag 90 anstatt der 145 ohne Massnahmen. Danach gäbe es kaum noch zusätzliche Todesfälle.
Was geschieht im Szenario mit der ansteckenderen Variante? Nehmen wir auch hier an, dass ab Tag 47 Massnahmen Wirkung zeigen, die den R-Wert um 30% senken, in diesem Fall von 1.65 auf 1.16.
Die Entwicklung sähe folgendermassen aus:
Der Anstieg der Fallzahlen liesse sich mit diesen Massnahmen nicht brechen. Fallzahlen würden weiterhin zunehmen, wenn auch etwas langsamer als zuvor. Bis zum Tag 90 sterben über 4'000 Menschen und auch nachher kommen jeden Tag mehr und mehr dazu.
Ich hoffe, diese Beispiele zeigen eindrücklich auf, weshalb stärkere Massnahmen nötig sind, um die neue Variante unter Kontrolle zu bringen — und zwar so schnell wie möglich.
Wir müssen mit ganz harten Massnahmen beginnen und diese dann schrittweise vorsichtig lockern — und dabei ständig ein Auge auf die Entwicklung der Zahlen haben. Schrittweise stärkere Massnahmen einzuführen und jeweils einige Wochen abzuwarten, um deren Effekte zu sehen, funktioniert nicht. Stellen wir uns vor, das wäre im letzten Szenario oben gemacht worden. Neue Massnahmen am Tag 40 verkündet, dann ein paar Wochen abgewartet und beobachtet. Es würde immer schlimmer. Dann ein paar Massnahmen mehr. Wiederum abwarten. So sterben Tausende unnötig und die Periode mit harten Massnahmen wird unnötigerweise in die Länge gezogen, worunter wir alle leiden.