Der R-Wert und die neue britische Variante

Opa Köbi
9 min readDec 31, 2020

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Es wird gerechnet. Aber die Resultate sind kontrovers.

Die Reproduktionszahl R ist dieser Tage wieder in aller Munde. Alles scheint von dieser Zahl abzuhängen. Und die Wissenschaftlerinnen, welche R-Werte berechnen und kommentieren stehen in der Kritik. Wie ihre Kolleginnen und Kollegen müssen sich auch Tanja Stadler und Emma Hodcroft viel gefallen lassen.

Diesen Fokus auf den R-Wert betrachte ich schon länger mit Skepsis. Er wird nämlich oft missverstanden. Folgende Eigenschaften des R-Wertes verdienen mehr Aufmerksamkeit:

  • Der R-Wert ist eine rückblickende Betrachtung. Er beschreibt das Infektionsgeschehen der Vergangenheit. Er ist keine Vorhersage der Zukunft.
  • Der R-Wert ist eine Schätzung. Er ist per Definition mit Unsicherheit behaftet und lässt sich nicht direkt messen. Deshalb sollten wir auch nicht von R-Werten mit mehren Stellen hinter dem Komma sprechen, sondern von Konfidenzintervallen.
  • Um R-Werte möglichst genau zu berechnen, müssten wir regelmässig eine Gruppe zufällig ausgewählter Schweizerinnen und Schweizer testen. Aktuell testet die Schweiz aber bei weitem nicht genug, was sich auch in der Testpositivitätsrate von 15–20% zeigt. (Die WHO empfiehlt einen Wert von unter 5%.) R muss daher aufgrund unvollständiger Daten approximiert werden und hängt auch davon ab, wie viele Menschen sich testen lassen (resp. testen lassen können). Nach einigen Wochen können aktuelle R-Werte aufgrund von Hospitalisations- und Todeszahlen genauer abgeschätzt werden.

Aufgrund dieser Eigenschaften ist es daher nicht sinnvoll, jeden Tag auf den R-Wert zu schauen und dann Entscheidungen zu treffen. “R von 0.97: Alle Restaurants öffnen! R von 1.02: Restaurants bitte wieder zu!” — Das ist Blödsinn. Zudem ist ein R von 1.0 kein guter Wert, nicht wenn Fallzahlen so hoch sind. Es kann in der aktuellen Situation nicht unser Ziel sein, R möglichst nahe bei 1.0 zu halten. (Bei tiefen Fallzahlen, wie wir sie z.B. im Juni hatten, wäre es aber durchaus sinnvoll gewesen, R bei 1.0 zu halten. Idealerweise natürlich noch drunter, aber hätten wir ein R von 1.0 beibehalten können, wäre das bereits grossartig gewesen. Vor wenigen Wochen noch wollte der Bundesrat übrigens einen R-Wert von 0.8 und eine Halbierung der Fallzahlen alle zwei Wochen erreichen — aber das ist ferne Vergangenheit und längst vergessen.)

Hinzu kommt, dass Kantone nicht Inseln sind. Sie haben nicht voneinander isolierte Populationen. Aufgrund lokaler Schätzungen von R die Restaurants im einen Kanton zu schliessen und im Nachbarkanton zu öffnen, ergibt wenig Sinn, wenn sich Menschen zwischen Kantonen bewegen. Dann gehen sie halt im Nachbarkanton in die Beiz, dort ist es ja erlaubt, also muss es wohl sicher sein.

Alle Massnahmen aufheben wegen R-Wert-Pfusch?

Einige Stimmen fordern nun bereits die Aufhebung aller Massnahmen wegen des “Riesen-Pfusches” mit dem R-Wert. Die Pandemie klinge schon längst ab, nur die Wissenschaftler rechneten mit ihrem “Hokuspokus” eine Panik herbei.

Aber Unschärfen bei der Berechnung des R-Wertes ändern nichts an der Zahl der Menschen, die sich infizieren. Sie ändern nichts an denen, die Spitalbehandlung benötigen. Und sie ändern auch nichts an den Todesfallzahlen. Auf diese Zahlen sollten wir schauen. Und verstehen, dass sie alle zu unterschiedlichem Grade zeitverzögert sind in Bezug auf den Zeitpunkt der Infektion. Skigebiete erst zu schliessen, wenn Intensivstationen voll sind, ist beispielsweise keine sinnvolle Regelung. Zwischen der Entscheidung zur Schliessung und dem Effekt dieser Massnahme auf die Zahl der belegten Intensivbetten vergeht etwa ein Monat. Derartige Massnahmen würden also immer einen Monat zu spät ergriffen.

Dieselben Kreise, die nun behaupten, die Pandemie befinde sich auf dem Rückzug und Massnahmen seien alle unnötig, hatten dies schon mehrmals verkündet. Bereits nach dem Frühlings-Lockdown wurden die Massnahmen rückblickend für unnötig erklärt. Man hätte schlicht nichts machen sollen, das Virus wäre von selbst verschwunden.

Wir wissen unterdessen, wie absolut falsch diese Einschätzungen waren (siehe z.B. meine Kommentare zum Brennwald-Film). Trotzdem haben sie wiederholt dazu beigetragen, dass die Schweiz Chancen verpasste, die Epidemie unter Kontrolle zu bringen (Übersicht der verpassten Chancen). Dass die Pandemie alles andere als abklingt, zeigt auch ein Blick auf die Entwicklung der Todesfallzahlen (z.B. hier Schweizer Zahlen im Vergleich mit anderen Ländern). Die Zahl der Todesfälle steigt in vielen Ländern an, teilweise drastisch — und das trotz Massnahmen. Ohne Massnahmen wäre es wohl noch deutlich schlimmer.

Was bedeutet nun die ansteckendere Mutation?

Die Fallzahlen in Grossbritannien steigen rasant an, was auch an der deutlich ansteckenderen neuen Virusvariante liegt, die dort ihren Ursprung hat.

Neue bestätigte COVID-19 Fälle in Grossbritannien

Was bedeutet dies nun für die Schweiz? Wir wissen, dass die neue Variante des Coronavirus bereits hier ist. Wird sie sich bei uns anders verhalten als in Grossbritannien? Vermutlich nicht. (Eine ähnliche neue Variante aus Südafrika hat ebenfalls bereits ihren Weg in die Schweiz gefunden.)

In gewissem Sinne sind wir nun wieder in einer ähnliche Situation wie im März. Es gibt ein “neues” Virus, dessen Eigenschaften noch nicht vollständig verstanden sind. In der Schweiz gibt es erst wenige Fälle. Sollten wir abwarten und beobachten oder lieber schon etwas unternehmen?

Nehmen wir als Vergleich die Situation ab Juni und illustrieren anhand von ihr, was es bedeutet, wenn eine Virusvariante viel ansteckender ist. Damals gab es nach dem Lockdown nur wenige Fälle und kaum Massnahmen. Die aktuelle Situation ist anders, einerseits sind wir in einer kälteren Jahreszeit und mehr Interaktionen finden in Innenräumen statt, daher sind nun mehr Ansteckungen zu erwarten als im Sommer. Andererseits sind nun bereits einige Massnahmen in Kraft, was die Zahl der Ansteckungen reduziert. Trotz dieser Differenzen möchte ich die Zahlen von Sommer und Herbst zum Vergleich hernehmen.

So haben sich die gemeldeten Fallzahlen von Anfang Juni bis Ende Oktober entwickelt:

Das sind keine theoretischen Werte. Das ist die tatsächlichen bestätigten Infektionen — natürlich mit all den zugehörigen Fussnoten zu Dunkelziffer usw.

Während Juni und Juli sieht man die Fälle von Auge kaum in dieser Darstellung. Im August nehmen sie dann etwas zu. Und im Oktober explodieren sie.

Wir können nun ein einfaches Modell über diese Zahlen legen, nennen wir es Modell A. Wir nehmen schlichtweg exponentielles Wachstum mit konstanter Wachstumsrate an:

Das ist stark vereinfacht, da sich Wachstumsraten in Realität auch verändert haben über die Zeit. Aber so schlecht passt das doch gar nicht.

Wie hätte dieselbe Situation ausgesehen, wenn das Virus schon damals deutlich ansteckender gewesen wäre? Ob die Variante nun 40%, 50% oder 70% ansteckender ist, hat durchaus Konsequenzen, nicht nur für die Verbreitungsgeschwindigkeit, sondern auch für den Schwellenwert der Herdenimmunität. Aber hier möchte ich mich nicht auf die Frage konzentrieren, wie viel ansteckender die neue Variante genau ist. Es geht mir vor allem um die Form der Kurve. Hier wäre Modell B einer 50% ansteckenderen Mutation:

Bei der Betrachtung der zwei Kurven fallen ein paar Dinge auf:

  • In Modell A scheint wenig zu passieren über die ersten beiden Monate hinweg (Juni/Juli). Das ist die Phase, in welcher Corona-Skeptiker von Panikmache sprachen, Wissenschaftlern Hysterie vorwarfen und eine Abschaffung sämtlicher Massnahmen forderten, denn die Horrorszenarien seien ja völlig falsch gewesen und die Epidemie längst vorbei. Die Fälle nahmen aber stetig zu, mit exponentiellem Wachstum. Das wäre genau die Phase, in der man hätte handeln müssen, da man bereits mit wenig einschneidenden Massnahmen viel hätte erreichen können. Systematische Kontaktverfolgung wäre hier auch essentiell gewesen. In Modell B gibt’s diese Phase auch, aber sie ist kürzer, etwa ein Monat. Wir werden nun auch wieder Vorwürfe von Panikmache hören.
  • In Modell A beginnt man die Fälle im dritten Monat (August) deutlicher zu sehen. Nun sprachen die Skeptiker von nur linearem statt exponentiellem Wachstum, sagten, man sehe nur mehr Fälle, weil mehr getestet werde, und in den Spitälern sei doch alles unter Kontrolle, es sterbe ja kaum jemand. Im Modell B sieht man die Fälle schon im zweiten Monat (hier Juli) deutlich ansteigen.
  • Und dann kommt die Explosion. Im Modell A (und in der Realität) fand diese im Oktober statt. Mit der neuen Variante wäre dies noch deutlich schneller geschehen, schon Ende Juli. Sie sprengt dann hier auch schnell die Skala — unter der Annahme, dass keine Massnahmen ergriffen werden.

Die zertifizierten Intensivbetten waren Mitte November, einen halben Monat nachdem diese Graphik endet, vollständig ausgelastet. Wann wären sie mit der neuen Variante vollständig belegt gewesen? Wir müssen auch beachten, dass wir aktuell schon ein hohes Niveau von COVID-Hospitalisationen haben, die zertifizierten Intensivbetten sind bereits zu 85% ausgelastet. Der Spielraum ist nun deutlich kleiner. Aber der R-Wert liegt aktuell auch wesentlich tiefer als er im Modell A oben angenommen wurde. Daher wird auch der R-Wert einer 50% ansteckenderen Variante tiefer liegen als in Modell B oben und es wird länger dauern bis zur Explosion — falls wir bestehende Massnahmen beibehalten oder verschärfen.

Deutliche Senkung der Fallzahlen lohnt sich in jedem Fall

Auch wenn es die neue Variante nicht gäbe, würde es sich lohnen, die Fallzahlen nun deutlich zu senken. Mit der Existenz der neuen Mutation wird das nur noch dringlicher.

Wenn wir Fallzahlen wieder runterbringen könnten auf das Niveau, welches wir im Juni hatten, wäre das von grossem Vorteil für Gesundheit, Gesellschaft und auch Wirtschaft:

  • Wir hätten deutlich weniger Hospitalisationen und Todesfälle. Die Spitäler würden entlastet, das Pflegepersonal hätte eine Verschnaufpause und alle Nicht-COVID-Fälle könnten wieder im gewohnten Masse behandelt werden.
  • Die Kontaktverfolgung wäre nicht mehr hoffnungslos überlastet. Wenn wir gleichzeitig noch in bessere Systeme und Prozesse investierten, könnten wir durch konsequente Rückwärts- und Vorwärtsverfolgung der Fälle sowie Isolation und Quarantäne Infektionsketten früh durchbrechen. Und diese Massnahmen wären einschneidend nur für wenige Betroffene anstatt für die Gesamtbevölkerung.
  • Das gesellschaftliche Leben könnte zu grossen Teilen wieder aufgenommen werden, mit wenigen bleibenden Einschränkungen.
  • Wirtschaftliche Tätigkeit könnte auch wieder zunehmen. Restaurants und Bars könnten geöffnet bleiben, mit wenigen Einschränkungen, aber systematischer Kontaktverfolgung. Und weniger Berufstätige müssten sich in Quarantäne begeben und der Arbeit fernbleiben.

Mit einem weniger aktiven Infektionsgeschehen würde zudem auch die Wahrscheinlichkeit weiterer Mutationen abnehmen — und damit auch die Gefahr einer neuen Variante, gegen die die existierenden Impfungen wirkungslos sind.

Diese Senkung der Fallzahlen würde aber eine weitere Periode einiger Wochen mit stärkeren Einschränkungen bedingen. Das mag niemand, das ist mir bewusst. Ich befürchte aber, dass wir um so eine Periode nicht herumkommen werden. Je später sie stattfindet, desto schmerzhafter wird sie sein und desto mehr Menschen müssen unnötig leiden. Wir hätten das am besten schon im Oktober gemacht. Oder bereits im Sommer ein bisschen mehr Disziplin und Weitsicht gezeigt. Damals wäre es noch möglich gewesen, mit vergleichsweise harmlosen Massnahmen Fallzahlen tief zu halten.

Zudem ist es jetzt bedeutend einfacher, die Fallzahlen runterzubringen, als wenn die neue Variante stärker verbreitet ist. In 2–3 Monaten werden deutlich stärkere Massnahmen nötig sein, um die neue Variante unter Kontrolle zu bringen. Wenn wir die Zahlen jetzt senken, können wir die wenigen Fälle der neuen Variante auch besser identifizieren, verfolgen und Infektionsketten durchbrechen. Das wird zunehmend schwieriger werden.

Wenn wir solche Massnahmen nun europaweit einführen würden, könnten wir auch verhindern, dass das Virus immer wieder aus anderen Ländern eingeschleppt wird. Gelingt es allen Ländern, Fallzahlen zu senken, so wäre auch das Reisen innerhalb Europas mit wenigen Einschränkungen wieder möglich. Kombiniert mit einem schnellen Aufbau von Impf-Infrastruktur und rascher Impfung beginnend mit den Risikogruppen könnten wir bis Mitte 2021 fast vollständig zur Normalität zurückkehren.

Appendix: Was hat die Taskforce gerechnet?

An der Pressekonferenz vom 29. Dezember hat Martin Ackermann Szenarien gezeigt, wie sich die Fallzahlen über die kommenden Monate entwickeln könnten in Anbetracht der neuen Varianten.

Ich habe versucht, das Modell der Taskforce nachzuvollziehen. Nimmt man ein Generationsintervall von fünf Tagen an und startet mit 4’000 neuen Fällen am 1. Januar 2021 (wovon 1% mit der neuen, 50% ansteckenderen Variante) dann erhält man so ziemlich dieselben Kurven der täglichen Fallzahlen wie die an der Pressekonferenz gezeigten:

In beiden Szenarien geht die Taskforce davon aus, dass es uns gelingt, den R-Wert unter 1.0 zu halten, also eine Reduktion der Fallzahlen der “alten” Variante zu erzielen.

Ich bin skeptisch, ob uns das tatsächlich gelingen wird. Insbesondere, wenn nun nach den Festtagen Arbeits- und Schulbetrieb wieder aufgenommen werden und in einigen Kantonen auch Restaurants und Skigebiete wieder geöffnet werden. Und unser Bundesrat lieber wieder mal abwartet.

Schauen wir uns daher noch zwei weitere Szenarien an. Was, wenn R 1.0 oder gar 1.1 beträgt?

Mit R von 1.0 (für die alte Variante) würden wir die Explosion bereits Anfang März erleben. Mit einem R von 1.1 ginge es noch deutlich schneller. Dies unterstreicht erneut, wie kritisch es ist, Fallzahlen jetzt deutlich zu senken.

Interessant ist zudem auch, wie schnell die neue Variante einen Grossteil der Neuinfektionen ausmacht:

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Opa Köbi

Ich mach mir halt so meine Gedanken. Aktuell zu COVID-19 und den Reaktionen insbesondere in der Schweiz. https://twitter.com/OpaKoebi