Wie machen wir das Beste aus dem Schweizer Impfdebakel?

Opa Köbi
8 min readApr 20, 2021

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Israel ist Impf-Weltmeister. Auch die Vereinigten Staaten und Grossbritannien kommen schnell voran. Die Schweiz ist ähnlich langsam wie unsere Nachbarländer. (Gil Cohen-Magen / AFP)

Dank der (zu Unrecht oft verunglimpften) Wissenschaft haben wir nun einen vielversprechenden Weg aus der Pandemie. Im Rekordtempo hat sie gleich mehrere hochwirksame Impfstoffe entwickelt und geprüft — in weniger als einem Jahr.

Leider hapert es mit der Umsetzung der Impfkampagnen — in etlichen Ländern. Die Schweiz hat viel zu zögerlich Impfstoff bestellt. Gelegenheiten ausgelassen, auch selbst in die Impfstoffproduktion zu investieren und damit schneller mehr Dosen verfügbar zu machen. Auch bei der Logistik wurde getrödelt. Registrationssysteme für Impftermine hätte man schon letzten Sommer bauen können. Die damit verbundenen Ausgaben hätten wir aus der Portokasse zahlen können — im Gegensatz zu den um ein Vielfaches höheren Kosten der Shutdown-Massnahmen.

Aber das ist Schnee von gestern und lässt sich alles nicht mehr ändern. Schauen wir also vorwärts. Gleichzeitig müssen wir verhindern, dass wir immer wieder sagen müssen “Das ist jetzt leider zu spät, da lässt sich nun nichts mehr machen.”. Viele Vorschläge und dringende Appelle der letzten Wochen und Monate (auch von mir) wurden nicht gehört. Bundesrat und BAG konzentrieren sich weiterhin vor allem auf Kommunikation und Ausreden, anstatt die weiterhin existierenden und schon lange bekannten Probleme mit Dringlichkeit zu lösen. Und viele Kantone gehen das Impfen immer noch gemächlich an. Bald soll’s dann richtig losgehen! Auch das hören wir schon seit Wochen.

Dienst nach Vorschrift reicht nicht in einer Pandemie. Mit jedem Tag Verzögerung beim Impfen gefährden wir nicht nur die Gesundheit der Bevölkerung, sondern verlängern auch das Leiden von Wirtschaft und Gesellschaft. Wir riskieren damit auch weitere Existenzen.

Was können wir also noch tun? Ein paar konkrete Vorschläge.

Erstimpfungen priorisieren

Die erste Dosis der Impfstoffe bietet bereits starken Schutz vor schweren Verläufen. Daher könnten Menschenleben gerettet (und Langzeitbeschwerden verhindert) werden, indem wir Erstimpfungen priorisieren. Dies könnte auf zwei verschiedene Arten geschehen, einer vorsichtigeren und einer mutigeren:

Tausch von Impfdosen: Erhält Patientin Anna heute ihre erste Impfdosis, so liegt die für sie vorgesehene zweite Impfdosis in vielen Fällen einige Wochen ungenutzt in einem Lager. Anna könnte ihre zweite Impfdosis “tauschen” mit Bruno, dessen Erstdosis in einigen Wochen geliefert werden soll. So könnte Bruno bereits heute sofort geimpft werden, mit Annas Zweitdosis. Trifft die ursprünglich für Bruno eingeplante Erstdosis ein, so wird der Tausch abgeschlossen und er gibt sie Anna, als deren Zweitimpfung.

Anna erfährt durch diesen Tausch keinen Nachteil. Weder ihr erster noch ihr zweiter Impftermin verzögert sich. Aber für Bruno ergibt sich ein deutlicher Vorteil: er kann einige Wochen früher seine erste Impfung erhalten. Und erspart sich dadurch eventuell einen Spitalaufenthalt.

Natürlich besteht ein Risiko, dass sich die Impflieferung verzögert und damit auch Annas Zweitdosis. Wir müssten abschätzen, wie wahrscheinlich dies ist, und diese Tauschvorgänge nur so weit zulassen, wie wir uns mit der Wahrscheinlichkeit der Verzögerung von Zweitimpfungen wohlfühlen. Das ist eine Frage von Risikomanagement und Medizin. Ich kann nicht abschliessend beurteilen, welche Risiken mit einer verspäteten Zweitimpfung einhergehen. Neuere Forschungsresultate scheinen aber darauf hinzuweisen, dass die Vorteile der früheren Erstimpfung deutlich überwiegen.

Nur damit ich nicht missverstanden werde: Anna und Bruno müssen sich weder kennen noch diesen Tausch orchestrieren. Das können die Kantone für sie machen. Im Idealfall merkt das gar niemand; Bruno kann sich schlicht über einen früher verfügbaren Impftermin freuen. Kommt es zu Verzögerungen bei Lieferungen, so müsste Anna mitgeteilt werden, dass sich ihr zweiter Impftermin verschiebt.

Streckung des Intervalls zwischen Dosen: Wir könnten noch weiter gehen und Zweitimpfungen bewusst verzögern. Im Extremfall würden wir erst alle Impfwilligen einmal impfen, bevor wir vorhandene Impfdosen für ausstehende Zweitimpfungen nutzen. Die Effekte und Grenzen dieses Aufschubs von Zweitdosen müsste wiederum die Medizin beurteilen.

Diese Ideen werden international mindestens seit Anfang Jahr diskutiert (ich hatte sie Mitte Januar auch schon aufgebracht). Es ist höchste Zeit, dass sie auch in der Schweiz ernsthaft beurteilt werden. Das muss sofort geschehen. Wir können uns dabei auch auf Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Ausland stützen. Und dann muss schnell gehandelt werden, um eine Anpassung der Impfstrategie in den Kantonen umzusetzen.

Lieber Bundesrat und liebes BAG, mit einer Änderung der Impfstrategie und Priorisierung von Erstimpfungen könnte auch das Ziel leichter erreicht werden, alle Impfwilligen ein erstes Mal geimpft zu haben bis Ende Juni, ähm … Ende Juli, also August, … ich meine Spätherbst. Damit könnten Sie sich einige Ausreden ersparen und Versprechen einhalten. Nur schon dafür würde sich das doch lohnen.

Bevölkerung aufklären

Laut aktuellen Umfragen sind nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten bereit, sich sofort impfen zu lassen. Hinzu kommt noch, dass selbst Impfwillige nicht Bescheid zu wissen scheinen über die Verfügbarkeit von Impfterminen. In Zürich blieben im April 18'000 Impftermine für über 65-Jährige erst ungenutzt. Dank eines Appells von Regierungsrätin Rickli konnten schliesslich doch noch Abnehmer gefunden werden.

Sowohl die mangelnde Impfbereitschaft als auch die ungenutzten Impftermine zeigen, dass grosse Teile der Bevölkerung unzureichend informiert sind. Wir brauchen dringend eine Kampagne, welche die Impfstoffe erklärt und Sorgen der Menschen adressiert. Martin Moder zeigt in Österreich vor, wie man auch Laien die Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Impfstoffen eingängig vermitteln kann. Er erklärt auch verständlich, weshalb mRNA-Impfungen unser Erbgut nicht verändern. Als Schweizer muss man selbst sehr interessiert sein und sich diese Informationen aus internationalen Quellen zusammensuchen. Sonst bleibt man unwissend, hat Bedenken, und wartet lieber mal ab mit dem Impfen. Viele haben grössere Angst vor einer Impfung als vor einer Corona-Infektion.

Sucht man ein bisschen, so findet man in der Schweiz zum Beispiel diese Videos von Swissmedic. Die sind ganz süss, aber etwas komplexer und hastiger als nötig. Ungünstig ist, dass erklärt wird, “die Technologie der mRNA-Impfstoffe ist relativ neu und wird zur Zeit gründlich erforscht”. Das hört sich an, als wären wir Versuchskaninchen für eine unerprobte Technologie. Dabei wurden mRNA-Impfstoffe schon drei Jahrzehnte lang erforscht.

Bundesrat und BAG sprechen jeweils von “allen, die wollen” und kündigen an, dass Corona-Massnahmen weitgehend aufgehoben werden können, sobald die Impfwilligen geimpft sind. Um aber Herdenimmunität zu erreichen und damit auch die zu schützen, die sich nicht impfen lassen können — wozu noch mindestens einige Monate lang auch alle Kinder gehören werden — brauchen wir eine Impfquote von deutlich über 50%.

Um auf sämtliche Massnahmen verzichten zu können, müssten wir mindestens 80% geimpft haben. Das wären praktisch alle Erwachsenen. Ohne Herdenimmunität wird es immer wieder zu Ausbrüchen kommen. Und von denen sind nicht nur Impfunwillige betroffen, man könnte also nicht einfach sagen “Selber schuld!”. Sogar Geimpfte können noch erkranken, die Impfungen wirken schliesslich nicht zu 100%. Schwere Verläufe bei Geimpften kommen glücklicherweise kaum vor.

Gerät unser Gesundheitssystem wieder an den Anschlag, so leiden alle, die eine Spitalbehandlung benötigen — auch wenn die überhaupt nichts mit dem Coronavirus zu tun hat. Dazu gehören Krebspatienten genauso wie Unfallopfer.

Alle sich registrieren lassen

Unterdessen sollten sich in allen Kantonen alle für eine Impfung anmelden können — unabhängig davon, wie lange sie noch warten müssen, bis sie drankommen. Eltern sollten auch ihre Kinder schon heute anmelden können.

Solche Registrierungen würden uns erlauben, Impfwillige zu kontaktieren, sobald Termine für sie verfügbar sind. “Wir empfehlen Ihnen regelmässig die Homepage der Gesundheitsdirektion zu konsultieren.” (wie das der Kanton Zürich rät) ist keine gute Lösung. So bleiben eben verfügbare Impftermine ungenutzt. Impfwillige sollten nicht ständig eine Website prüfen müssen. Sie sollten sich darauf verlassen können, dass sie eine Nachricht erhalten, sobald sie an der Reihe sind.

Hätten wir vollständige Wartelisten, so könnten verfügbare Impfdosen auch entsprechend Nachfrage auf die Kantone verteilt werden. Mit einem fixen Verteilschlüssel besteht nämlich die Gefahr, dass Impfwillige im einen Kanton warten müssen, während sich in einem anderen Kanton unerwünschte Impfdosen ansammeln.

Innovation zulassen

In einer Notsituation wie der aktuellen reicht “business as usual” nicht aus. Wir müssen einfallsreicher sein.

In einem ersten einfachen Schritt könnten Impfungen auch ausserhalb Bürozeiten sowie an Wochenenden und Feiertagen erfolgen. Das würde sicher helfen, da aktuell hunderttausende Dosen ungenutzt in Lagern liegen. Es sind aktuell etwa 80'000 mehr als maximal für Zweitimpfungen reserviert sein können.

Durch weitere Innovationen liesse sich die Impfgeschwindigkeit zusätzlich erhöhen. Israel hatte Drive-in-Impfzentren geschaffen. In der Schweiz existiert bestimmt auch Raum für Kreativität. Wir könnten beispielsweise in Firmen impfen. Deren Mitarbeiter sind vielerorts noch nicht dran, aber man könnte ja vorausplanen.

Dort zu impfen, wo Menschen sowieso hingehen, würde uns auch erlauben, Gruppen zu erreichen, die nur bruchstückhaft informiert sind, beispielsweise aufgrund beschränkten Medienkonsums oder ungenügender Sprachkenntnisse.

Laut diverser Experten kann man aus einem Fläschchen des Pfizer/BioNTech-Impfstoffs, wenn man’s mit den richtigen Spritzen geschickt macht, nicht nur die vorgesehenen fünf Dosen ziehen, sondern sechs oder gar sieben vollständige Dosen. Bei Moderna sind zehn Dosen vorgesehen und elf oder gar zwölf können im besten Fall entnommen werden.

Da nicht garantiert ist, dass diese Zusatzdosen gewonnen werden können, fällt es schwer, mit ihnen zu planen. Aber sind abends noch solche Zusatzdosen übrig, so könnte man Impfwillige kontaktieren, die sich dafür angemeldet haben und gerne kurzfristig erscheinen für einen Impftermin. Mit ein bisschen mehr Zusatzaufwand könnten wir schneller vorankommen und verhindern, dass Impfdosen weggeworfen werden müssen.

Ehrlich sein

Nach mehrfacher Verschiebung angekündigter Zieltermine kann sich niemand mehr auf die Versprechungen von Bundesrat und BAG verlassen. Anstatt sich selbst zu loben für zukünftige Optimalszenarien, sollten sie schlicht ehrlich sein mit uns.

Gibt es Unsicherheiten, so können diese vermittelt werden. Damit würde auch Planungssicherheit erhöht. Wer Mitte März Sommerferien gebucht hat in der Gewissheit, bis Ende Juni geimpft zu sein, wird seine Pläne vermutlich ändern müssen. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern kann auch teuer werden.

Die wiederholte Verbreitung von Fehlinformationen (zur Wirksamkeit von Masken, Übertragung durch Aerosole oder der Rolle von Kindern) hat dem Ansehen des BAG nachhaltig geschadet. Schweizerinnen und Schweizer fragen sich zu Recht, ob sie Informationen noch trauen können. Das ist gefährlich. Auf eine Gesundheitsbehörde muss man sich verlassen können.

Das BAG sollte alles unternehmen, Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Rosige Versprechungen, von denen man schon bei der Verkündung weiss, dass sie wahrscheinlich nicht werden eingehalten werden können, bewerkstelligen das Gegenteil.

Für Nachimpfungen planen

Es ist noch nicht bekannt, wie lange der Impfschutz anhalten wird. Infolge weiterer Mutationen werden wir zudem angepasste Impfstoffe benötigen, auch um bereits gegen andere Varianten geimpfte Menschen zu schützen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass mit “Booster Shots” alle nochmal geimpft werden müssen, vielleicht sogar mehrmals über die kommenden Jahre.

Für diese zukünftigen Auffrisch-Impfungen kann das BAG sofort mit der Planung beginnen. Die ist in Teilen schon erfolgt, so wurden beispielsweise aktualisierte Impfungen von Moderna bestellt (jedoch erneut nur zögerliche Mengen). Doch damit darf es nicht enden. Die Impflogistik können wir auch bereits jetzt durchdenken, denn es könnte eines Tages wieder schnell gehen müssen. Falls sich beispielsweise eine neue Mutation rasant in der Schweiz verbreitet, gegen die bisherige Impfungen nicht ankommen.

Vieles wurde versäumt und kann nicht mehr nachgeholt werden. Trotzdem können wir noch einiges verbessern bei der Impfkampagne der nächsten Wochen und Monate.

Vor wenigen Tagen veröffentlichte der Tages-Anzeiger ein Interview mit Christoph Berger, dem “obersten Impfchef der Schweiz”. Er erklärt darin, wir “müssten schneller vorwärtsmachen”, “viel flexibler sein” und “man könnte auch am Samstag impfen”. Es ist unklar, wem er diese Ratschläge erteilt, steht er doch selbst in der Verantwortung. Er hört sich an, als wäre er ein externer, unbeteiligter Beobachter, der aus der Ferne kommentiert.

An der Pressekonferenz letzte Woche widersprachen sich verschiedene Behördenvertreter bezüglich der Frage, bis wann alle geimpft sein werden. Es ist unklar, wer wirklich zuständig ist und auf wen man nun hören sollte. Braucht die Schweiz vielleicht einen “Impf-Zar”, der die gesamte Impfkampagne leitet und bei Fragen Red und Antwort steht?

Das Hinundherschieben von Verantwortung zwischen Bund und Kantonen ist ein Trauerspiel. Erst beschwerten sich die Kantone über mangelnde Impfdosen. Kaum hatten sie genug, waren sie unfähig, diese schnell zu verabreichen. Nun verzögern sich Lieferungen von Moderna; statt der erwarteten 350'000 Dosen sind nur 70'000 eingetroffen. Jetzt zeigen die Kantone wieder mit dem Finger auf den Bund. — “Solange ich die Schuld von mir weisen kann, ist ja alles gut.”

Es kann so nicht weitergehen. Denn der bisherige Ansatz ist gescheitert. Je schneller wir das einsehen, desto rascher können wir Anpassungen machen, damit es mit dem Impfen nun wirklich bald “richtig losgeht”.

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Opa Köbi

Ich mach mir halt so meine Gedanken. Aktuell zu COVID-19 und den Reaktionen insbesondere in der Schweiz. https://twitter.com/OpaKoebi