Coronavirus-Fallzahlen in der Schweiz sinken im Moment und mit den verschärften Massnahmen werden sie dies hoffentlich bald noch deutlicher tun. Ich bin zuversichtlich, dass der Bundesrat den Ernst der Lage nun erkannt hat und nötigenfalls rasch zusätzliche Massnahmen ergreift. Dies muss geschehen, falls Fallzahlen nicht schnell genug sinken.
Bald werden wir auch vermehrt wieder Rufe nach Öffnung hören; die gibt’s ja heute schon. Und natürlich müssen wir irgendwann auch wieder aus dem Lockdown rauskommen.
Es ist aber ganz wichtig, dass wir nicht die Fehler des letzten Sommers wiederholen. Wir dürfen nicht nachlässig werden und meinen, wir hätten die Pandemie überstanden. Wir sollten uns jetzt bereits vorbereiten für eine Zeit mit tiefen Fallzahlen, damit wir sie auch tief halten können — oder idealerweise mit gezielten Massnahmen weiter senken bis auf null.
An den notwendigen Themen können wir sofort zu arbeiten beginnen — bei den meisten ist hoffentlich schon etwas im Gange. Aber wir scheinen nur langsam Fortschritte zu machen. Wir befinden uns in einer Notlage und “business as usual” reicht schlichtweg nicht aus. Wir müssen alle Kräfte mobilisieren, um hier einige grosse Schritte vorwärts zu machen. Und wir müssen konsequent sein. Wenn wir überall nur halbbatzig handeln, weil es sich ja nur um einen von vielen Bausteinen unserer Viruskontrolle handelt, dann fällt das Gesamtgebäude in sich zusammen.
Ein vereinfachtes Beispiel zur Veranschaulichung: Nehmen wir an, es gibt fünf unterschiedliche Massnahmen, die je zu 80% erfolgreich sind, eine Infektion zu verhindern (“pro Infektionsgelegenheit” sozusagen). Abstandhalten, Masketragen, usw. Damit eine Ansteckung stattfindet, müssten alle fünf Massnahmen scheitern. Die Wahrscheinlichkeit davon ist 0.03%.
Nehmen wir nun an, jede Massnahme wirkt 30% schlechter, weil sie unvollständig umgesetzt wird. Man kommt sich doch etwas näher. Masken trägt man teilweise unter dem Kinn. Jede einzelne Massnahme wirkt nun nur noch mit 56% Wahrscheinlichkeit. Und die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns aller Massnahmen ist nun 1.65%. Das ist etwa fünfzigmal höher!
Hat eine Person über einen bestimmten Zeitraum hundert solche Gelegenheiten sich anzustecken, so beträgt im ersten Szenario (mit 80% erfolgreichen Massnahmen) die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung 3%. Wirken die Massnahmen im zweiten Szenario 30% schlechter und gehen wir wiederum von hundert Infektionsgelegenheiten aus, so beträgt die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung 81%. Auch in dieser Betrachtung ein massiver Unterschied.
Wer also denkt “Wenn ich jetzt ein bisschen schummle, macht das ja kaum was aus.”, wer beim Anstehen doch etwas drängelt und anderen zu nahe kommt, wer seine Maske nicht trägt, wer sich nicht an eine Quarantäne hält — all diese Menschen müssen davon ausgehen, dass dies andere auch tun. Und damit haben diese vermeintlich kleinen Fehltritte plötzlich einen grossen Gesamteffekt.
Es folgt eine Liste von Themen, denen wir uns meiner Meinung nach mit Nachdruck widmen sollten, um für das Ende des Lockdowns bereit zu sein. Bei vielen lohnt sich eine Umsetzung auch schon früher. Die genannten Beispiele aus diversen Ländern sind nicht unbedingt zum exakten Nachahmen empfohlen.
Bessere Masken
Als im Frühling Masken knapp waren, war ein Stofffetzen besser als gar nichts. Doch Stoffmasken, insbesondere wenn sie nur aus einer Lage bestehen, haben eine sehr geringe Schutzwirkung, insbesondere im Bezug auf Aerosole. All die Studien, die von Corona-Skeptikern zitiert werden, die behaupten, Masken würden nichts bringen, beziehen sich typischerweise auf Stoffmasken.
Masken der Schutzklassen FFP2 und FFP3 bieten eine viel höhere Schutzwirkung, wenn sie richtig getragen werden. Ich finde sie persönlich auch viel angenehmer, weil sie auf kleinerer Fläche auf der Haut aufliegen und mehr Raum zum Atmen geben. Meine FFP3-Masken verhindern auch zuverlässig das Beschlagen meiner Brillengläser.
Unterdessen sollten genügend FFP2-Masken verfügbar sein. In Bayern sind sie ab dem 18. Januar im öffentlichen Raum sogar obligatorisch.
Wir sollten uns ebenfalls von Stofffetzen verabschieden und wirksame Masken tragen, um sowohl andere als auch uns selbst zu schützen. Ja, alle Masken sind mühsam, aber mit einer FFP2-Maske hat man wenigstens etwas davon. Und wir sollten diese Masken richtig und konsequent tragen. Nicht die Nase rausstrecken. Und sie nicht beim Sprechen runterziehen und näher zum Gegenüber lehnen, das ist genau völlig falsch.
Häufigeres und schnelleres Testen, mehr Sequenzierung
Jeder sollte sich schnell testen lassen können, unabhängig von Symptomen. Und Resultate von PCR-Tests sollten innerhalb von 24 Stunden verfügbar sein. Bei tieferen Fallzahlen sollten Testcenter mehr als genug Kapazitäten haben.
Antigen-Schnelltests verschiedener Anbieter stehen unterdessen auch zur Verfügung. Sie sind weniger zuverlässig als PCR-Tests, benötigen aber kein Labor zur Analyse der Probe. Sie werden aktuell typischerweise von medizinischem Fachpersonal durchgeführt. Ende letzten Jahres wurden aber in einigen Ländern auch schon erste Tests für den Gebrauch zuhause zugelassen. Resultate sind typischerweise nach 15–30 Minuten bereit und werden ähnlich wie bei einem Schwangerschaftstest in Form einer Linie, die in einem Sichtfeld erscheint, angezeigt. Nur pinkelt man nicht auf den Test drauf, sondern ein Rachenabstrich kommt zum Einsatz.
Die Schnelltests sprechen gut an während der ersten Woche von Symptomen mit hoher Viruskonzentration. Sie messen daher, wie ansteckend jemand gerade ist (also wie gefährlich für andere), können aber nicht zuverlässig feststellen, ob jemand angesteckt wurde (ob er das Virus bereits in sich trägt). Diese Tests ermöglichen eine Momentaufnahme mit beschränkter zeitlicher Gültigkeit. Sie könnten beispielsweise eingesetzt werden, um Besucher von Altersheimen zu testen. Das Testergebnis wäre dann aber nur für den jeweiligen Besuch gültig; bei einem erneuten Besuch am Folgetag wäre bereits ein neuer Test nötig.
Die Tests könnten auch für regelmässige Kontrollen von Spitalpersonal oder beispielsweise auch Schülern eingesetzt werden. Sie können nicht jeden positiven Fall erwischen, aber erkennen mit grosser Wahrscheinlichkeit Personen mit hoher Viruslast. Und das sind genau die Superspreader, die viele andere infizieren könnten — und häufig noch keine Symptome spüren, wenn sie am ansteckendsten sind. Sie frühzeitig zu finden, wäre sehr hilfreich.
Massentests werden ebenfalls diskutiert. In diesem Kontext haben die Schnelltests jedoch eine problematische Schwäche: falsch-positive Resultate, die eine nicht ansteckende Person fälschlicherweise als krank deklarieren. Im Einzelfall ist das nicht so schlimm; der Besuch im Altersheim wird abgeblasen, man begibt sich zur Sicherheit in Isolation und prüft mit einem PCR-Test nach, ob tatsächlich eine Infektion vorliegt. Und dann gibt’s Entwarnung.
In der Masse haben falsch-positive Resultate aber grössere Auswirkungen. Selbst bei guten Antigen-Tests können 1% der Resultate falsch-positiv ausfallen. Würde man also beispielsweise 8.5 Millionen Schweizer alle testen, wären 85’000 Fehlalarme zu erwarten. Das wären 85’000 Personen, die sich unnötig in Isolation begeben würden. Das wäre nicht sinnvoll. Kommt es aber lokal zu einem signifikanten Ausbruch, könnte man in einem beschränkten Umkreis alle einem Schnelltest unterziehen und anschliessend nur bei denen den PCR-Test machen, die ein positives Schnelltest-Ergebnis vorweisen. So könnte eine Überlastung der PCR-Testkapazitäten vermieden werden.
Tests beider Sorten sollten wir für alle Altersstufen einsetzen. Wir sollten nicht aus politischen Gründen dort wegschauen, wo wir uns lieber keine Ansteckungen wünschten, insbesondere in den Schulen. Leider werden Kinder immer noch selten getestet, selbst wenn sie Symptome zeigen. Das müssen wir ändern. Wer Infektionen an Schulen verstecken möchte, um Schulschliessungen zu verhindern, tut niemandem einen Gefallen.
Wenn wir das Infektionsgeschehen an Schulen besser verstehen, können wir nicht nur Infektionsketten durchbrechen (wodurch weniger Kinder und Lehrpersonen dem Unterricht fernbleiben müssen), sondern auch Massnahmen entwickeln, die zielgerichteter sind als eine Komplettschliessung. Und damit schliesslich nicht nur die Bildung unserer Sprösslinge sicherstellen, sondern auch unnötige Verlängerungen von Lockdowns verhindern.
Die Sequenzierung des Virusgenoms nach positiven Tests würde uns erlauben, besser zu verstehen, wie sich neue Varianten in der Schweiz verbreiten, und entsprechend zu reagieren. Bisher werden in der Schweiz pro Woche aber nur 100 bis 300 Proben sequenziert, ein kleiner Bruchteil aller Fälle.
Grossbritannien macht das deutlich besser. Dort wurden bisher knapp 9% der Proben von bestätigten Fällen sequenziert. Das erlaubte dem Land auch, das Auftauchen der neuen Variante B.1.1.7 schnell zu erkennen. Vielleicht ist diese gar nicht in Grossbritannien entstanden; die Briten waren einfach die ersten, die auf sie aufmerksam wurden.
Grossbritannien hat bisher fast so viele COVID-Genome sequenziert wie der gesamte Rest der Welt zusammen. Das Land spielt eine Vorreiterrolle, weil bereits Anfang März 2020 (als erst 85 lokale Fälle bekannt waren) eine Gruppe von Experten im Bereich der genetischen Sequenzierung von Krankheitserregern zusammenkam und ein Konsortium gründete, um durch Sequenzierungen die geographische Verbreitung verschiedener Varianten und deren Mutationen zu überwachen und damit die Gestaltung von Gegenmassnahmen zu unterstützen. Zwei Wochen später hatte sich die Gruppe bereits 20 Millionen Pfund der von der Regierung zur Verfügung gestellten Coronavirus-Gelder gesichert. Unterdessen arbeiten etwa 300 Forscher mit und teilen ihre Daten umsonst mit Kolleginnen und Kollegen weltweit, damit auch diese aus den Erkenntnissen lernen können.
Moderne, zuverlässige Kontaktverfolgung
Die Kontaktverfolgung scheint leider vielerorts noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen zu sein. Wir brauchen dringend eine moderne, digitalisierte Kontaktverfolgung, die auch über Kantonsgrenzen hinweg reibungslos funktioniert. Und die alle Mittel moderner Kommunikation nutzt. Man kriegt den Eindruck, dass in einigen Kantonen das Contact Tracing so erfolgt, wie man das auch vor dreissig Jahren gemacht hätte: mit Papierdossiers, Fax und Telefon.
Kontaktverfolgung sollte sowohl rückwärts (“Wo könnte sich die Person angesteckt haben?”) als auch vorwärts (“Wer könnte sich am selben Ort angesteckt haben? Wen hat die Person seither getroffen?”) erfolgen. Wir wissen unterdessen, dass wenige Infizierte einen Grossteil der Neuansteckungen verursachen. So zeigt beispielsweise eine wissenschaftliche Studie aus Hong Kong vom September, dass 19% der Angesteckten für 80% der Neuinfektionen verantwortlich waren. In Ländern wie Japan werden daher Bewegungen von positiv Getesteten über die vergangenen 14 Tage zurückverfolgt. Wenn herausgefunden werden kann, wann und wo sich jemand infiziert hat, können auch andere kontaktiert werden, die sich am selben Ort angesteckt haben könnten. Sie und ihre nahen Kontakte können sich dann in Quarantäne begeben.
Den Erfolg der Kontaktverfolgung sollten wir genau messen. Können Infektionsketten nicht durchbrochen werden, so müssen wir aus diesen Misserfolgen lernen können. Eine Kernmetrik wäre zum Beispiel, wie schnell sich im Schnitt welcher Anteil der Kontakte einer betroffenen Person in Quarantäne begeben hat. Diese Zahlen sollten nicht nur erhoben, sondern auch veröffentlicht werden. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, dass 80% der nahen Kontakte einer infizierten Person sich spätestens drei Tage nach deren positivem Test in Quarantäne begeben haben sollten.
Um solche Werte zu erreichen, werden genügend Contact Tracers benötigt. Und die Mitarbeit der Bevölkerung. Doch rücken einige Betroffene Angaben zu Kontakten nur widerwillig raus. In Grossbritannien beispielsweise machen 18% keine Angaben zu nahen Kontakten. In einigen Regionen der Vereinigten Staaten ist es sogar mehr als die Hälfte, die Angaben verweigern.
Südkorea weiss sich hier zu helfen. Ihre Vorgehensweise gilt weltweit als eine der erfolgreichsten bei der Kontaktverfolgung. Sie leisten akribische Detektivarbeit, um potenzielle Infektionen rasch aufzuspüren und Betroffene in Quarantäne zu schicken. Angesteckte und Augenzeugen werden per Telefon und vor Ort befragt. Jedes Detail zählt. Wo man sich genau aufgehalten hat, wer dabei war, wie man bezahlt hat, wann man eine Maske getragen hat.
Aufnahmen von Überwachungskameras, Kreditkartenzahlungen und Mobiltelefondaten werden herbeigezogen, um zu rekonstruieren, wer sich wann wo aufhielt. Damit lassen sich auch Aussagen aus Gesprächen überprüfen und ergänzen. Wer Details verschweigt oder gar lügt, muss mit einer Busse von bis zu 20 Millionen Won (etwa 16’000 Franken) rechnen oder könnte gar bis zu zwei Jahre im Gefängnis landen.
Südkorea konnte mit dieser Strategie weitgreifende Lockdowns vermeiden. Eine zweite und dritte Welle gab es trotzdem, sie konnten aber schnell wieder gebrochen werden. Wer bei uns am TV behauptet, Südkorea sei genauso gescheitert wie Europa und Fallzahlen seien auch dort wieder dramatisch angestiegen, sollte einen Blick werfen auf die Grössenordnungen: Südkorea hatte auf dem Höhepunkt ihrer dritten Welle im 7-Tage-Schnitt zwei Fälle pro 100’000 Einwohner und Tag. In der Schweiz waren es über hundert — fünfzigmal mehr!
Im Frühling schickten Behörden in Südkorea Warnungen an alle Telefone in Gebieten, in denen sich eine infizierte Person aufgehalten hatte. Solche Nachrichten enthielten typischerweise Alter und Geschlecht der angesteckten Person sowie Karten mit minutengenauen Angaben ihrer Bewegungen über die vergangenen Tage inklusive der Namen von Geschäften und Restaurants, die sie besucht hatte.
Dies führte nicht nur dazu, dass genannte Lokale wochenlang gemieden wurden, obwohl schon längst keine Gefahr mehr bestand, sondern brachte auch Einzelpersonen in Schwierigkeiten, konnten sie doch teilweise aufgrund der veröffentlichten Angaben identifiziert werden. So wurde beispielsweise ein Mann fälschlicherweise beschuldigt, mit seiner Schwägerin fremdzugehen, weil ein Vergleich ihrer Bewegungen zeigte, dass sie zusammen in einem Restaurant gegessen hatten.
Die Angst, dass private Details des eigenen Lebens öffentlich zur Schau gestellt werden, könnte auch dazu führen, dass Leute sich trotz Symptomen nicht testen lassen. Die Behörden sind unterdessen zurückhaltender mit Veröffentlichung solcher Daten und empfehlen dies nur noch, wenn die Identifikation aller Kontakte mit anderen Methoden nicht möglich ist.
Konsequente Isolation und Quarantäne
Im Moment befinden wir uns praktisch alle zu gewissem Grad in Quarantäne und sind beschränkt darin, wen wir treffen können. Sind Fallzahlen erst einmal tief, so kann die grosse Mehrheit von uns wieder mehr Freiheiten geniessen. Die wenigen Infizierten und ihre Kontakte werden sich jedoch weiterhin an strenge Einschränkungen halten müssen.
Es ist wichtig, dass wir das wirklich ernst nehmen und Betroffene auch dabei unterstützen, sich an ihre Isolation oder Quarantäne zu halten. Niemand sollte trotz vorgeschriebener Quarantäne weiterhin zur Arbeit gehen, weil sie sonst Lohneinbussen zu befürchten hat.
Gleichzeitig brauchen wir bessere Kontrollen und spürbare Bussen, wenn Vorgaben nicht eingehalten werden. Das Epidemiengesetz lässt Bussen von bis zu 5’000 Franken zu bei fahrlässigem Verhalten und von bis zu 10’000 Franken bei Vorsatz. Doch derartige Bussen scheinen selten ausgesprochen zu werden. Obwohl beispielsweise über den Sommer die Zahlen Einreisender aus Risikogebieten vermuten liessen, dass sich viele nicht meldeten und auf die vorgeschriebene Quarantäne verzichteten.
Stichprobenartige Kontrollen mit saftigen Bussen bei Zuwiderhandlung hätten schnell Signalwirkung. Ich plädiere hier nicht für einen Überwachungsstaat, sondern schlicht für sinnvolle Anreize, sich an Vorgaben zu halten, die dem Schutz anderer dienen. Insbesondere, wenn ein einziger Quarantänebrecher eine Kettenreaktion auslösen kann und Hunderte Neuansteckungen verursachen.
In einigen Ländern kamen auch kreative Lösungen zum Einsatz, um Einhaltung von Quarantänen sicherzustellen. So zwang Moskau im Frühling Betroffene zur Installation einer App, die den Nutzer regelmässig aufforderte, Fotos von sich selbst aufzunehmen — um zu beweisen, dass man auch tatsächlich zuhause ist.
Wer nicht sofort reagierte, wurde automatisch gebüsst mit 4’000 Rubel (etwa 50 Franken). Wie Human Rights Watch berichtete, erhielten einige Nutzer Selfie-Aufforderungen mitten in der Nacht. Die Busse war dann beim Aufwachen schon da.
Eine Patientin, deren Zustand sich nach mehreren Tagen Quarantäne zuhause verschlechterte, rief einen Krankenwagen. Unterwegs zum Spital schlief sie ein, verpasste eine Mitteilung der App und wurde prompt automatisch gebüsst. (Eine derartige App geht auch für meinen Geschmack klar zu weit.)
Breitere Nutzung der COVID-App
Laut dem Bundesamt für Statistik wurde die SwissCovid-App auf 2.9 Millionen Geräten heruntergeladen und ist aktuell auf 2.2 Millionen Geräten aktiv. Pro Tag werden einige Hundert Covidcodes eingegeben, was bedeutet, dass nur ein kleiner Bruchteil aller Infektionen von der App erfasst wird. Diese Zahlen sind zu klein. Wir brauchen eine deutlich höhere Nutzung dieser App.
Umfragen zeigen, dass leider viele die SwissCovid-App weiterhin skeptisch beäugen. Sie machen sich Sorgen zu ihren Daten und installieren die App daher lieber nicht. Gleichzeitig nutzen sie völlig unbesorgt Facebook, Instagram & Co.
Sie sind dabei viel zu sorgfältig mit der COVID-App und viel zu sorglos mit den anderen Diensten. Die SwissCovid-App kennt weder ihren Namen, ihr Geburtsdatum, ihren Aufenthaltsort noch sonst irgendwelche persönlichen Daten (und im Gegensatz zu Facebook & Co. hat sie auch keine Fotos von ihnen und weiss auch nicht, wer all ihre Freunde sind).
Die SwissCovid-App sendet bloss zufällig generierte Zeichenketten über Bluetooth an andere Geräte mit der App im nahen Umfeld. Und die merken sich, welche Zeichenketten sie wann “gehört” haben. Wird eine App-Nutzerin positiv getestet, so erhält sie einen Code, den sie in ihrer App eingeben kann. Die Zeichenketten, die ihr Gerät ausgesendet hat, während sie ansteckend war, werden dann anderen zur Verfügung gestellt. Ihr Gerät sagt sozusagen den anderen Geräten “Falls Ihr diese Zeichenfolgen von mir empfangen habt, dann könnte Euer Besitzer von meiner Besitzerin angesteckt worden sein und sollte sich testen lassen.”. Niemand erfährt, wer die angesteckte Person ist und wo die Ansteckung stattgefunden haben könnte. Die App nutzt keine GPS-Daten.
Es ist ein sehr cleveres System und aus Sicht der Privatsphäre unglaublich sicher — gerade im Vergleich zu anderen Apps, die ohne jegliche Bedenken genutzt werden. Wer sich Sorge macht um Zugang zu seinen Daten, sollte sich mit dieser App zudem viel wohler fühlen als mit einer Liste von Gästen (mit deren Namen, Postadresse, Email, Telefonnummer) auf Papier am Eingang des Restaurants, die jedem zugänglich ist, der da reinlatscht. Wo diese Daten genau landen, ist völlig unklar, auch bei eigenen elektronischen Systemen mit QR-Codes, die einige Restaurants angeboten haben.
Wir sollten mehr Werbung machen für diese App. Und sie besser erklären. Der Aufwand, die App zu installieren, ist winzig klein. Es ist ein Beitrag, den jeder leisten kann, ohne jegliche Unannehmlichkeiten, ohne Verzicht, ohne Kosten und ohne Datenschutzbedenken.
Sobald Veranstaltungen wieder erlaubt sind, könnte man sich zudem eine Erweiterung der SwissCovid-App mit QR-Codes überlegen. Wer beispielsweise ein Konzert besucht, scannt am Eingang mit seiner App einen QR-Code. Die App weiss damit, an welcher Veranstaltung der Besitzer des Gerätes anwesend war. Diese Information bleibt lokal auf dem Gerät, es werden also nicht irgendwo zentral Teilnehmerlisten mit persönlichen Daten gesammelt.
Stellt sich heraus, dass es an der Veranstaltung zu Ansteckungen kam, so können alle Teilnehmer gewarnt werden, die sich im selben Raum befanden und durch Aerosol-Übertragung hätten angesteckt werden können, selbst wenn sie stets mehrere Meter von der infektiösen Person entfernt waren.
Das System würde allen Geräten (denn es weiss ja nicht, wer an welcher Veranstaltung war) eine Nachricht schicken, die sagt “Falls Ihr mal diesen QR-Code gescannt habt, dann könnte Euer Besitzer sich angesteckt haben und sollte sich testen lassen.”. Wie bei der aktuellen App bleiben alle Nutzer anonym, die App kennt keine persönlichen Angaben und es werden keine GPS-Daten genutzt.
Das System könnte ähnlich auch für den regulären Betrieb von Restaurants, Bars usw. funktionieren. Es würde in diesem Fall neben dem QR-Code auch Datum und Zeit berücksichtigen. Wiederum gäbe es keine zentrale Stelle, die weiss, wer wann wo gewesen ist. Einige COVID-Apps wie beispielsweise die des NHS in England und Wales bieten derartige Funktionalität bereits an. Betreiber von Lokalen können in wenigen einfachen Schritten online einen QR-Code und zugehörige Poster zum Ausdrucken generieren.
Anhaltende Kontaktreduktion
Selbst wenn Fallzahlen tief sind, werden wir weiterhin auf grössere Menschenansammlungen verzichten müssen, bis ausreichende Immunität durch Impfungen erreicht worden ist.
Unterdessen verstehen wir, dass wenige Infizierte einen Grossteil der Neuansteckungen ausmachen und viele Infizierte gar niemanden anstecken. Leider wissen wir im Vorfeld nicht, wer besonders ansteckend ist. Wir können aber Schadensbegrenzung betreiben, indem wir für alle Gelegenheiten vermeiden, zahlreiche andere Menschen anzustecken.
Wenn wir Superspreader von Grossveranstaltungen fernhalten möchten, aber nicht wissen, wer die Superspreader sind, dann müssen wir eben alle Leute von Grossveranstaltungen fernhalten, also schlicht auf Grossveranstaltungen verzichten.
Würde es uns gelingen, Teilnehmer in kleinere Gruppen aufzuteilen, die mit anderen keinen direkten Kontakt haben, so könnten wir trotzdem grösseren Menschenmengen gemeinsame Erlebnisse ermöglichen. Wichtig wäre hierbei, dass diese Trennung der kleinen Gruppen nicht nur während des Hauptteils der Veranstaltung gewährleistet ist, sondern auch bei allem drumherum. Oft sind es Nebenschauplätze (wie zum Beispiel das Schlangestehen am Eingang), die das grösste Ansteckungsrisiko bergen.
Hier gibt es noch viel Raum für kreative Lösungen. Auch durch virtuelle Teilnahme an Events.
Sorgfältige Infektionsvermeidung
Auch bei tiefen Fallzahlen sollten wir Interaktionen mit anderen Menschen möglichst so gestalten, dass Ansteckungen weniger wahrscheinlich werden. Das ist besonders wichtig, wenn man sich mit Leuten aus mehreren Haushalten trifft.
Wir können es dem Virus mit einfachen und wenig einschneidenden Massnahmen schwerer machen, von einem Wirt zum nächsten zu springen. Wir können längere Aufenthalte in Innenräumen mit Gruppen vermeiden, gerade wenn gesungen oder laut gesprochen wird. Treffen können wenn möglich draussen stattfinden, was in der kalten Jahreszeit etwas schwieriger ist, aber gegen Frühling wieder einfacher wird — und im Sommer unabhängig von Corona häufig zur Präferenz.
Wenn wir uns in Innenräumen treffen, hilft regelmässiges Lüften. Die Luftfeuchtigkeit auf 50–65% zu erhöhen, macht es dem Virus auch schwerer, über längere Distanzen zu reisen.
Dass Masketragen beim Abendessen mit Freunden völlig doof wirkt, verstehe ich. Wer aber auf persönlichen Kontakt mit Angehörigen von Risikogruppen nicht verzichten möchte, sollte dabei besondere Vorsicht walten lassen. Beim Besuch der Oma eine Maske zu tragen (und zwar alle, nicht nur die Oma), Abstand zu halten, und gute Durchlüftung sicherzustellen, ist meiner Ansicht nach die richtige Abwägung.
Regelmässiges Händewaschen ist auch weiterhin sinnvoll. Wer engen Kontakt über längere Zeiträume mit grösseren Menschengruppen nicht vermeiden kann (auf einem Langstreckenflug zum Beispiel) und auf Nummer sicher gehen möchte, sollte zudem seine Augen schützen. Es gibt Hinweise, dass das Coronavirus auch über die Augen den Weg in den Körper finden kann. Wer diesen Winter auf Skifahren verzichtete, kann die Skibrille also eventuell trotzdem noch zum Einsatz bringen.
Wirkungsvolle Einreisebeschränkungen
Nachdem wir Fallzahlen erfolgreich gesenkt haben, müssen wir sicherstellen, das Virus nicht wieder zu importieren aus stärker betroffenen Gebieten. Wie das Beispiel von Wengen zeigt, kann ein einziger infizierter Tourist dreissig Ansteckungen verursachen. Und werden diese nicht schnell erkannt, können Hunderte daraus werden.
Wenn wir freies Reisen zwischen Gebieten erlauben, so können die mit schmerzhaften Lockdowns erzielten Fallreduktionen schnell wieder zunichte gemacht werden. Das gilt sowohl für Gebiete innerhalb einzelner Länder als auch für Reisen von Land zu Land. Das ist auch einer der Gründe, weshalb es wenig sinnvoll ist, in einzelnen Kantonen zu öffnen, während andere Kantone mit harten Massnahmen gegen das Virus vorgehen. Infizierte aus stark betroffenen Kantonen tragen das Virus in die Kantone mit lockeren Massnahmen, wo es sich ungehindert verbreiten kann.
Wir müssen lokale Erfolge schützen, indem wir erneute Einfuhr des Virus aus anderen Gebieten unterbinden. Gelingt es anderen Regionen, Fallzahlen ebenfalls deutlich zu senken, so können Einreisebestimmungen für Ankünfte aus diesen Gebieten gelockert werden. Je mehr Regionen und Länder ihre Fallzahlen senken, desto mehr Reisekorridore ohne strikte Einschränkungen entstehen.
Wie verhindern wir, dass das das Virus von aussen wieder reingetragen wird? Einige Ländern stoppen Einreise aus ausgewählten Gebieten vollständig, andere verlangen negative PCR-Tests oder schreiben Quarantänen vor.
Vollständige Einreisestopps sind meiner Ansicht nach zu drastisch. Tests alleine reichen nicht aus. Einige Länder verlangen bei Einreise einen negativen PCR-Test, der nicht älter als 72 Stunden sein darf. Selbst wer einen solchen Test vorweisen kann, könnte kurz vor oder nach dem Test angesteckt worden sein — und würde während der Reise oder nach Ankunft an der Destination die höchste Ansteckungsfähigkeit erreichen.
Es braucht daher Einreisequarantänen von mindestens zehn Tagen. Wer bei Einreise einen negativen Test vorweisen kann, der weniger als drei Tage alt ist, könnte nach einigen Tagen Quarantäne nochmal getestet werden und die Quarantäne frühzeitig verlassen, wenn der Test erneut negativ ausfällt. Ein solches System wäre deutlich sicherer und würde kaum Fälle zulassen, die durch die Maschen fallen.
Taiwan lässt Einreise von Ausländern nur noch unter ganz bestimmten Bedingungen zu (für solche mit Aufenthaltsbewilligung, deren Familienmitglieder oder Diplomaten und Geschäftsleute, die beweisen können, dass sie vertraglichen Verpflichtungen nachkommen). Transitpassagiere sind nicht mehr willkommen.
Einreisende müssen sich in ein Quarantäne-Hotel begeben oder beweisen, dass ihnen eine Wohneinheit für die Quarantänezeit zur Verfügung steht, die nicht mit anderen Personen geteilt wird.
Taiwan kontrolliert die Einhaltung der Quarantäne durch Überwachung von Mobiltelefonen. Wer In Taiwan ankommt, muss eine lokale SIM-Karte besitzen oder eine kaufen und sich für das Quarantäne-System registrieren. Die Regierung hatte in Zusammenarbeit mit den Telekom-Anbietern bereits Anfang Februar 2020 schnell ein System auf die Beine gestellt, welches den Aufenthaltsort der für die Quarantäne registrierten Mobiltelefone bestimmen kann.
Wer sich zu weit weg bewegt von seinem Quarantänedomizil, erhält vom System sofort eine Nachricht oder einen Anruf. Reagiert man darauf nicht oder schaltet gar sein Telefon aus (oder geht die Batterie zur Neige), steht innert Minuten die Polizei vor der Tür. Und lässt man sein Telefon zuhause, so riskiert man, in Bars und ähnlichen Lokalen in der Nähe von der Polizei erwischt zu werden, die gezielt Ausschau hält nach Quarantänebrechern (und auch schon einige so erwischt hat).
Und das kann teuer werden. Bussen von bis zu einer Million Neue Taiwan-Dollar (etwa 30’000 Franken) sind möglich. Ein Gastarbeiter aus den Philippinen, der für acht Sekunden aus seinem Zimmer in einem Quarantänehotel in den Gang hinaustrat, wurde von Überwachungskameras erwischt und mit 100’000 NTD (etwa 3’000 Franken) gebüsst.
Die taiwanesische Regierung hat angekündigt, das Überwachungssystem nach dem Ende der Pandemie ausser Betrieb zu nehmen. Es ist nicht schwer, sich Missbrauchsszenarien vorzustellen. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht sinnvolle Nutzung moderner Technologien in Betracht ziehen sollten für die Administration von Einreisequarantänen. Dabei müssen wir nicht so weit gehen wie Taiwan — oder Moskau (siehe Beispiel weiter oben).
Flächendeckendes Impfen
Die Impfung wird uns hoffentlich erlauben, die Pandemie endgültig hinter uns zu lassen. Dafür brauchen wir nicht nur genügend Impfdosen, sondern müssen diese auch effizient verteilen und verabreichen können.
Leider fehlt es der Schweiz aktuell sowohl an einer ausreichenden Zahl von Impfdosen als auch an der Infrastruktur und den Prozessen für einen raschen Einsatz der vorhandenen Dosen. Beides ist ein grosses Versäumnis. Wir hätten früher mehr Dosen von verschiedenen Anbietern bestellen sollen, um auf der sicheren Seite zu sein im Sinne einer Versicherung. Die Kosten davon werden in Millionen gemessen, die Kosten der Lockdowns in Milliarden — das hätte sich locker gelohnt.
Auch bei der Organisation der Impfkampagne sind wir im Hintertreffen. Der Auftrag für das IT-System wurde im Dezember vergeben. Dies hätte man auch schon im Sommer machen können. Wenn das Virus auch ohne Impfung verschwunden wäre, hätten wir uns glücklich schätzen können und die unnötig ausgegebene Million wäre völlig vernachlässigbar gewesen.
Wahrscheinlicher war, dass Impfungen eines Tages verfügbar sein würden und dann auch weiterhin benötigt werden. Wie lange das genau dauern würde und welche Anbieter mit der Entwicklung am schnellsten vorankommen würden, war zugegebenermassen weniger klar. Aber ein Anmeldesystem für Impftermine hängt kaum von den Details des Impfstoffes ab (bis eventuell auf einige logistische Details, die sich aber in Einstellungen einer solchen Software abbilden lassen sollten). Man hätte es auch ohne dieses Wissen längst bauen können.
Nun ist es wichtig, dass wir aufholen und Impfungen schnell vorantreiben. Auch hier wären etwas Kreativität und Flexibilität gefragt. Impfzentren müssten sich beispielsweise nicht an Bürozeiten halten und man könnte auch frühmorgens und am Abend impfen, um schneller mehr Patientinnen und Patienten zu erreichen.
Israel macht vor, wie man im Rekordtempo impft. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung hat dort die erste Injektion bereits erhalten. In der Schweiz haben wir noch nicht mal 1% der Bevölkerung erreicht.
Wie gelang Israel dieser Erfolg? Das Land hat aggressiv Impfdosen eingekauft und scheint dabei auch bereit gewesen zu sein, deutlich mehr pro Dosis zu bezahlen als andere (es wird über doppelte oder gar dreifache Preise spekuliert). Die Impfstoffe wurden früh von Behörden genehmigt. Zudem stellt Israel sowohl dem Impfhersteller Pfizer sowie der Weltgesundheitsorganisation anonymisierte Daten zu Alter, Geschlecht, Krankheitsgeschichte der Geimpften sowie zu Nebenwirkungen und Wirksamkeit zur Verfügung, was den Verkauf und die schnelle Lieferung von 10 Millionen Impfdosen auch für Hersteller Pfizer/BioNTech zusätzlich attraktiv gemacht haben wird.
Die Impfkampagne wurde begünstigt durch die obligatorische allgemeine Krankenversicherung und ein nationales Gesundheitsnetzwerk, das berechtigten Stellen Zugang zu digitalen Patientenakten aller Bürger ermöglicht. Diese zentral verfügbaren Daten erlaubten es auch, Patienten zu priorisieren gemäss Alter und Gesundheitszustand sowie sie direkt über papierlose Prozesse zu kontaktieren und Termine zu vereinbaren. Der Zusammenhalt in der krisenerprobten Bevölkerung, der Einsatz der Armee und die kurzen Distanzen im kleinen Land waren zusätzliche gute Voraussetzungen. Israel bewies auch hier seinen viel gelobten Erfindergeist, beispielsweise mit Drive-in-Impfzentren.
Doch nicht alles ist rosig. Einige Teile der Bevölkerung stehen der Impfung kritisch gegenüber. Dazu gehören die arabische Minderheit und ultra-orthodoxe jüdische Gemeinschaften, die Corona-Massnahmen generell ablehnen. Einige Rabbis haben ihre Gemeinden aufgerufen, sich impfen zu lassen, und gingen mit gutem Beispiel voran. Doch gegen Zweifel und Verschwörungstheorien haben auch sie einen schweren Stand. Israel geriet zudem in die Kritik von Menschenrechtsorganisationen, weil palästinensische Gebiete bei den Impfkampagnen nicht berücksichtigt wurden. Der Impferfolg hat noch kaum Einfluss auf die Fallzahlen. Israel befindet sich erneut im Lockdown und scheint gerade den Höhepunkt einer dritten Welle erreicht zu haben.
In mehreren Ländern wird aktuell kontrovers diskutiert, ob Impfprotokolle angepasst werden sollten, um schneller mehr Menschen eine erste Dosis zu verabreichen. Die Frage, ob die Verabreichung der zweiten Dosis über die von den zertifizierten Impfprotokollen vorgegebenen Zeiträume hinaus verzögert werden sollte, kann ich leider nicht beantworten — dazu fehlt mir schlicht die Expertise.
Und die Experten, auf die ich mich typischerweise verlasse, sind sich hier uneins. Die einen warnen vor einer Abweichung von den getesteten und genehmigten Impfprotokollen und der Gefahr der Begünstigung von impfresistenten Varianten. Die andern plädieren für mehr Flexibilität, um möglichst schnell möglichst viele mit wenigstens einer Impfdosis zu versorgen, die bereits einen teilweisen Schutz bietet.
Einen Vorschlag kann ich jedoch guten Gewissens unterstützen: Zweitdosen nicht zurückzuhalten, sondern sie bereits zu nutzen, um mehr Patienten schneller die erste Dosis zu geben, ist sinnvoll — solange die Wahrscheinlichkeit genügend hoch ist, dass genügend Zweitdosen rechtzeitig geliefert und verteilt werden können, um sie innerhalb der vorgesehenen Fristen zu verabreichen.
Viele der in diesem Text vorgeschlagenen Massnahmen verlangen wenig bis gar nichts von der breiten Bevölkerung. Dazu gehören Testen, Sequenzierung, Kontaktverfolgung, Nutzung der SwissCovid-App sowie die Impfungen.
Einige Massnahmen machen unser Leben ein bisschen mühsamer. Masketragen mag kaum jemand. Kontaktreduktionen sind auch unbeliebt. Doch wenn wir mit diesen Beiträgen Fallzahlen tiefhalten können, ist das vermutlich allen lieber als weitere Lockdowns.
Isolation und Quarantänen sind für wenige einschneidender. Wir sollten diese Opfer für die Allgemeinheit schätzen und Betroffene unterstützen. Das ist wiederum einfacher und billiger als Lockdowns.
Keine einzelne dieser Massnahmen beendet die Pandemie alleine, es braucht eine Kombination. Wenn extreme Formen einzelner Massnahmen in Konflikt stehen mit anderen Zielen wie beispielsweise dem Schutz der Privatsphäre, so müssen wir Abwägungen treffen.
Andere Länder zeigen, dass man durch Spezialisierung erfolgreich sein kann. Wer bei ausgewählten Massnahmen glänzt, kann es sich leisten, bei anderen weniger weit zu gehen. Hier muss jedes Land den Mix finden, der möglich ist und Akzeptanz finden kann. Die Massnahmenkombination, für die wir uns entscheiden, müssen wir aber konsequent umsetzen. Zu glauben, dass wir bloss mit Konzepten in der Schublade und ohne jegliche Einschränkungen auskommen werden, ist Wunschdenken.
Bei all den Gedanken zum Ende des Lockdowns dürfen wir nicht vergessen, dass ein halbwegs ernstzunehmender Lockdown erst grad beginnt. Viele der diskutierten Massnahmen würden schon jetzt helfen, Fallzahlen schneller zu senken.
Damit wir uns gegen die neue Variante B.1.1.7 behaupten können, sollten wir nun keine unnötigen Risiken eingehen. Zu denen gehört der Verzicht auf Massnahmen, ohne die andere Länder gegen B.1.1.7 keine Chance hatten. Je mehr wir nun investieren, desto schneller kann der Lockdown wieder enden. Und desto kleiner ist das Risiko, dass uns die neuen Varianten mit einer dritten Welle überrollen. So wie das gerade in Irland geschehen ist.
Irland hat ein klar definiertes Ampelsystem und konnte damit die zweite Welle sehr gut meistern. Durch die Nähe zu Grossbritannien war es aber eines der ersten Länder, in dem sich auch die neue Variante B.1.1.7 stark auszubreiten begann. Die Kurve der neuen Fälle stieg fast senkrecht an.
Die dritte Welle scheint nun gebrochen, Fallzahlen sinken wieder. Welche Massnahmen waren dazu notwendig? Aktuell gilt in Irland Folgendes:
- Besucher zuhause sind nicht erlaubt.
- Soziale Treffen sind auch in keinem anderen Kontext zugelassen.
- Es dürfen sich lediglich Mitglieder von maximal zwei Haushalten im Freien treffen, um Sport zu treiben.
- Man muss grundsätzlich zuhause bleiben und darf sich maximal 5km vom eigenen Zuhause entfernen für Sport.
- Home Office ist Pflicht, ausser für unerlässliche Gesundheits- und andere Dienstleistungen, die nicht von zuhause aus erbracht werden können.
- Alle Geschäfte sind geschlossen, mit Ausnahme derer des täglichen Bedarfs.
- Alle persönlichen Dienstleistungen wie beispielsweise Coiffeure sind geschlossen.
- Alle Restaurants, Cafés und Pubs sind geschlossen, dürfen aber Speisen und Getränke zum Mitnehmen anbieten.
- Museen, Fitnesscenter und andere Freizeiteinrichtungen sind geschlossen.
- Schulen, Krippen und andere Kinderbetreuung sind geschlossen.
- Bewohner von Altersheimen dürfen maximal all zwei Wochen einen einzigen Besucher für eine Stunde empfangen.
- Die Kapazitäten des öffentlichen Verkehrs wurden auf 25% reduziert.
- Gottesdienste müssen online stattfinden.
- Hochzeiten dürfen maximal sechs Gäste haben.
- Beerdigungen sind auf zehn Teilnehmer beschränkt.
Von derartigen Massnahmen ist die Schweiz noch weit entfernt. Können wir uns das leisten?