Die SVP forderte am 29. Dezember ein Ende der Corona-Massnahmen und eine “sofortige Öffnung” (Medienmitteilung). Die Aufhebung von einschränkenden Massnahmen und eine Rückkehr zum normalen Leben würden wir uns wohl alle wünschen — aber nicht, wenn dadurch Tausende zusätzlich sterben, Zehntausende an Langzeitfolgen leiden und die Überlastung unseres Gesundheitssystems noch länger anhält.
Wenn wir so weitermachen wie bisher und Fallzahlen nicht wesentlich senken, werden bis Anfang Mai etwa 10’000 weitere Menschen in der Schweiz an COVID sterben — zusätzlich zu den über 7’000, die bereits jetzt verstorben sind.
Das können wir verhindern, indem wir die Zahl der Neuinfektionen deutlich senken. Über die Monate Juni und Juli — nach dem Frühlings-Lockdown — hatten wir im Schnitt 72 neue Fälle pro Tag. Damals, im Sommer 2020, der schon so weit weg scheint, war das Leben eigentlich gar nicht schlecht. Es gab kaum Einschränkungen und die Sonne schien. Wenn wir nun wieder ein ähnliches Niveau von Fällen und Massnahmen erreichen könnten, wäre auch das aktuelle triste Grau leichter zu ertragen.
Setzen wir uns also ein Ziel von durchschnittlich 100 oder weniger neuen Fällen pro Tag. Wie lange würde es dauern, solche Werte zu erreichen? Die wissenschaftliche Taskforce geht in ihren Modellrechnungen von einem Reproduktionswert R von 0.9 aus. Ob die aktuellen Massnahmen tatsächlich ausreichen, um den R-Wert auf 0.9 zu senken, wissen wir leider noch nicht sicher. Über die Feiertage wurde weniger getestet und die Zahlen sind daher nicht verlässlich.
Wie lange dauert es mit einem R-Wert von 0.9?
Lassen wir diese Unsicherheiten aber mal beiseite und nehmen wir einfach an, dass wir tatsächlich einen R-Wert von 0.9 haben aktuell und den mit denselben Massnahmen auch beibehalten könnten. Zudem gehen wir von 4’000 Neuinfektionen am 1. Januar aus. Bis wann müssten Restaurants geschlossen bleiben?
Ein R-Wert von 0.9 bedeutet eine Halbierung der Fallzahlen etwa alle vier Wochen. Wir bräuchten mehr als fünf Halbierungen, um unter 100 Fälle pro Tag zu kommen. Von 4’000 auf 2’000, von 2’000 auf 1’000, von 1’000 auf 500, von 500 auf 250, von 250 auf 125 und dann sind wir fast da. Es würde bis Ende Juni dauern, den Zielwert von 100 Neuansteckungen pro Tag zu erreichen.
“Aber das kann doch nicht sein! Alle Restaurants zu bis Ende Juni?!” — Ja, da haben Sie recht. Das wäre nicht gut. Es muss schneller gehen.
Wie lange dauert es mit R von 0.8?
Mit zusätzlichen Massnahmen könnten wir R auf 0.8 senken. Die Taskforce rechnet ebenfalls Modelle mit einem R-Wert von 0.8, was in etwa einer Halbierung der Fallzahlen alle zwei Wochen entspricht. Wie lange müssten Restaurants geschlossen bleiben mit R=0.8?
Mit einem R-Wert von 0.8 ginge es einiges schneller. Wir könnten den Zielwert von 100 Neuinfektionen pro Tag Ende März erreichen.
“Aber das kann doch nicht sein! Alle Restaurants zu bis Ende März?! Ich will doch wieder jassen!” — Ja, da haben Sie recht. Das wäre nicht gut. Es muss schneller gehen.
Wie lange dauert es mit R von 0.6?
Nehmen wir an, wir könnten mit zusätzlichen Massnahmen einen R-Wert von 0.6 erreichen. Wie lange würde es dann dauern?
Mit einem R-Wert von 0.6 könnten wir unser Ziel bereits bis Anfang Februar erreichen. Tausende Menschenleben würden gerettet. Zigtausende weniger müssten an Langzeitfolgen von COVID leiden. Unser Gesundheitssystem würde entlastet. Patientinnen und Patienten mit anderen Erkrankungen könnten wieder behandelt werden. Und wer sich beim Skifahren ein Bein bricht, könnte auch gleich lokal behandelt werden, ohne erst in der ganzen Schweiz ein Spitalbett suchen zu müssen.
Ein schnelles Ende von Massnahmen erfordert härtere Massnahmen
Wer sich ein schnelles Ende von Massnahmen und eine baldige Rückkehr zur Normalität wünscht, sollte sich nicht für weniger Massnahmen einsetzen, sondern für mehr. Wir sollten nicht möglichst viel offen halten, sondern möglichst viel schliessen. Je mehr wir geöffnet halten, desto länger werden Massnahmen andauern müssen. Und je mehr wir schliessen, desto schneller können wir Massnahmen wieder aufheben.
Daher sollten wir nun so viel wie möglich schliessen, um möglichst viele Kontakte zu verhindern. Das bedeutet, dass wir zusätzlich zu Restaurantschliessungen auch Home-Office-Pflicht einführen sollten überall dort, wo das möglich ist. Und auf Präsenzunterricht in Schulen verzichten. Private Treffen auf ein Minimum beschränken und stattdessen virtuell in Kontakt bleiben. Nur für wenige Wochen.
Wir haben das schon mal gemacht im Frühling. Es war für viele nicht einfach, aber wir waren gemeinsam erfolgreich und haben die Verbreitung des Virus unterbunden. Wir schaffen das auch ein zweites Mal. Ja, niemand mag einen zweiten vollständigen Lockdown. Und ja, es wäre viel besser gewesen, wenn wir das hätten verhindern können.
Aber dazu hätten wir im Sommer handeln müssen. Die Taskforce und diverse weitere Expertinnen und Experten hatten uns gewarnt und eindringlich geraten, nicht zu schnell zu öffnen und Massnahmen stattdessen vorsichtig zu lockern. Leider hat unsere Regierung nicht auf sie gehört (sondern wie es scheint auf andere, ungenannte “Spezialisten”, die dann von den Entwicklungen überrumpelt wurden). Wir hatten zudem im Herbst die Chance, mit einem kürzeren Lockdown die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Auch diese Chance haben wir ungenutzt lassen (Übersicht der verpassten Chancen).
Ein erneuter Lockdown wird wiederum schmerzhaft sein. Aber lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, wie es so treffend heisst. Die betroffenen Branchen müssen wir angemessen entschädigen. Sie leiden völlig unverschuldet.
Mit Home-Office, Fernunterricht und Kontaktreduktionen im Privaten zeigen wir auch Solidarität mit dem Gastgewerbe und den Kulturschaffenden; wir verteilen die Last auf mehr Schultern und kommen damit auch wieder schneller aus dem Lockdown raus. Wenn wir weitermachen wie bisher, werden Restaurants, Bars, Cafés und Kulturbetriebe noch monatelang eingeschränkt bleiben.
Nach einem Lockdown müssten wir sicherstellen, die Fehler vom Sommer nicht zu wiederholen. Wenn Fallzahlen erst mal auf einem tiefen Niveau angelangt sind, müssen wir alles daran setzen, sie auch dort zu behalten. Dazu gehört konsequentes Testen, Kontaktverfolgung, Isolation, Quarantäne. Weiterhin Masken im öffentlichen Verkehr und in Innenräumen, in denen viele Menschen zusammenkommen. Und auch Einreisebeschränkungen wie beispielsweise obligatorische Einreisequarantänen müssten wir in Betracht ziehen, insbesondere aus Ländern mit signifikant höheren Fallzahlen. (Idealerweise würden wir gesamteuropäisch Fallzahlen senken, dann könnten wir auch Grenzen zueinander wieder öffnen.)
Doch da lauert noch B.1.1.7
Die neue, ansteckendere Virusvariante B.1.1.7 aus Grossbritannien wird es leider noch schwieriger machen, Fallzahlen zu senken und dauerhaft tief zu halten. Die Szenarien oben wurden ohne Berücksichtigung der neuen Variante gerechnet. Weshalb diese neue Virusvariante mir grosse Sorge bereitet, können Sie hier nachlesen.
Wir wissen, dass die neue Variante bereits in der Schweiz angekommen ist, sie wurde mehrfach nachgewiesen. Wie stark sie schon verbreitet ist, wissen wir aber nicht. Wir können davon ausgehen, dass erst ein kleiner Bruchteil der Infektionen mit der neuen Variante erfolgen. Die Taskforce ging in ihren Modellen von aktuell 1% der Neuinfektionen aus.
Das Heimtückische an der neuen Variante ist, dass eine Senkung der Fallzahlen der alten Variante die Ausbreitung der neuen Variante — anfänglich noch mit tiefen Fallzahlen — zu gewissem Grade verdecken würde. Die Gesamtzahlen könnten wochenlang sinken, während sich die neue Variante rasant ausbreitet. Zu einem bestimmten Zeitpunkt übersteigt das Wachstum der neuen Variante schliesslich die Abnahme der Fälle der alten. Plötzlich sehen wir dann eine Explosion der Fallzahlen, obwohl vorher doch alles so gut zu laufen schien. Das ist wiederum eine Gelegenheit für unsere Politiker, völlig überrascht zu werden. “Also so hätte das niemand erwartet, gar niemand. Selbst unsere Spezialisten sind völlig überrascht.”
Doch die wahren Experten warnen bereits jetzt (wie auch schon zuvor). Die Szenarien, welche die Taskforce am 29. Dezember präsentierte, zeigen diese Effekte ebenfalls.
Falls das Szenario A der Taskforce eintritt, würden sich die täglichen Fallzahlen bis Anfang März folgendermassen entwickeln:
Falls wir uns tatsächlich nahe an diesem Szenario bewegen werden, höre ich schon heute die Forderungen in Januar und Februar, Massnahmen zu lockern oder vollständig aufzuheben, denn die Zahlen seien ja unter Kontrolle. “Die Wissenschaftler lagen wieder völlig falsch, die Horrorszenarien sind nicht eingetreten, die Spitäler sind nicht überfüllt.” — auf derartige Kommentare aus den gewohnten Kreisen kann man schon heute wetten.
Wenn die neue Virusvariante aber tatsächlich so viel ansteckender ist, wie aktuell befürchtet wird, wären Lockerungen im Januar und Februar fatal. Das Szenario A der Taskforce erwartet einen steilen Anstieg der Fallzahlen im März und April, weil sich die neue Variante bis dann stark verbreitet hat:
Würden wir zum Beispiel Mitte Februar Lockerungen einführen, die den R-Wert (der alten Variante) von 0.9 auf 1.0 erhöhen, so käme der rapide Anstieg nur noch früher:
Wir wissen noch nicht viel über die neue Variante B.1.1.7. Aber die Zahlen aus Grossbritannien verheissen nichts Gutes. Was wir dort in den kommenden Tagen und Wochen beobachten, wird sich höchstwahrscheinlich auch bald in der Schweiz wiederholen, falls wir nicht frühzeitig handeln. Sogar wenn die neue Variante nicht existierte, sollten wir nun in einen kurzen, aber konsequenten Lockdown investieren. Die Gefahr von B.1.1.7 macht diesen Schritt nur noch dringlicher.
Wenn es uns gelingt, Fallzahlen schnell auf etwa 100 pro Tag zu senken, werden wir vermutlich trotzdem bald einen Anstieg der Neuansteckungen aufgrund der neuen Variante sehen. Aber wir werden Fälle besser verfolgen und Infektionsketten durchbrechen können. Wenn wir bei einem rapiden Anstieg der Fallzahlen von 100 auf 200 pro Tag sofort weitere (lokale) Massnahmen ergreifen und die Zahl der Fälle damit wieder senken, bedeutet dies bloss ein paar Dutzend mehr Todesfälle, als wenn wir die 100 Ansteckungen pro Tag konstant gehalten hätten.
Wenn wir stattdessen Fälle bei 4’000 pro Tag stabilisieren, sind die Gesundheitsdepartemente der Kantone weiterhin überfordert mit der Kontaktverfolgung. Damit lassen wir der neuen Variante freien Lauf. Steigen Fälle plötzlich von 4’000 auf 8’000 an und wir ergreifen Massnahmen, so werden Tausende zusätzliche Todesfälle verursacht, bis wir die Fallzahlen wieder auf 4’000 pro Tag gesenkt haben. Und dann geht das Sterben im heutigen Tempo weiter, selbst wenn es uns gelingt, Fallzahlen stabil bei 4’000 pro Tag zu halten.
Wenn wir eines gelernt haben in diesem ersten Jahr der Pandemie, dann ist es, dass frühzeitiges Handeln sich lohnt. Kein Land der Welt bereut es, schnell agiert zu haben — im Gegenteil.