Wir sind bereits auf Schwierigkeitsstufe “Anfänger” gescheitert

Opa Köbi
9 min readMar 15, 2021
In Computerspielen kann man häufig wählen, wie schwer man es sich machen will. Gefährlichere Mutanten des Coronavirus zwingen uns auf höhere Schwierigkeitsstufen. Zurück zu den einfacheren können wir nicht mehr.

Haben wir nur wenige Coronafälle, so ist alles besser — damit sollten unterdessen alle einverstanden sein.

Sind Fallzahlen tief — sagen wir unter 100 neuen bestätigten Fällen pro Tag in der Schweiz — so ist es viel leichter, sie auch konstant zu halten oder sogar weiter zu senken. Und das kann uns mit vergleichsweise milden Massnahmen gelingen, die nur wenige betreffen. Allgemeine Massnahmen für die Gesamtbevölkerung wären weitgehend unnötig. Wir könnten ein fast vollständig normales Leben geniessen.

Diese Situation hatten wir im letzten Sommer, Sie erinnern sich vielleicht. Leider waren uns selbst die ganz harmlosen Massnahmen wie das Masketragen im öffentlichen Verkehr zu viel damals. Und so bescherten wir uns eine zweite Welle im Herbst.

Die hätten wir damals noch relativ leicht unter Kontrolle bringen können. Wir waren sozusagen auf Schwierigkeitsstufe “Anfänger” im Kampf gegen das Coronavirus. Wir (also genau genommen unsere Bundesräte und die Kantonsregierungen) haben uns leider gegen wirksame Massnahmen entschieden.

Unterdessen müssen wir denselben Kampf auf Schwierigkeitsstufe “Fortgeschrittene” führen. Denn bei den neuen Varianten — insbesondere der britischen Mutante B.1.1.7, die unterdessen eine Mehrheit der neuen Fälle ausmacht — reichen die Massnahmen, die im Herbst genügt hätten, nicht mehr aus. Deutlich strengere Einschränkungen wären nun nötig, um Fallzahlen in Schach zu halten.

Scheitern wir auch auf der fortgeschrittenen Stufe, so werden wir es vielleicht in der Zukunft auf Stufe “Profi” versuchen müssen, wenn noch gefährlichere Mutanten in der Schweiz Fuss fassen.

Eine mögliche Vorschau auf die Auswirkungen weiterer Varianten zeigt uns aktuell Brasilien. In der Amazonas-Stadt Manaus hatten Ende letzten Jahres gemäss Schätzungen bereits drei Viertel der Bevölkerung eine Coronavirus-Infektion durchgemacht und es wurde vermutet, dass damit Herdenimmunität erreicht war. Trotzdem erlebte die Stadt einen rapiden Anstieg von COVID-Hospitalisationen und -Todesfällen im Januar.

Das könnte insbesondere an der Variante P.1 liegen, die unterdessen nicht nur dominant geworden ist in Brasilien, sondern auch schon in mehr als zwei Dutzend anderen Ländern nachgewiesen wurde, auch in der Schweiz.

Eine neue Studie einer Gruppe von Forschern der Universität Oxford, dem Imperial College London und der Universität São Paulo kommt zum Schluss, dass die Mutante P.1 um Faktor 1.4 bis 2.2 ansteckender ist als andere Varianten in Brasilien. Zudem macht sie eine erneute Ansteckung von Patienten, die bereits früher von SARS-CoV-2 infiziert worden sind, 25–61% wahrscheinlicher. Das ist auch ein Zeichen, dass Impfungen weniger wirksam sein könnten gegen P.1. Diese Möglichkeit ist besonders besorgniserregend, da der chinesische Impfstoff CoronaVac, auf den sich Brasilien hauptsächlich verlässt, bereits bei der ursprünglichen Variante nur eine Wirksamkeit von 50% zeigt.

Erkenntnisse aus einem Pre-Proof einer Harvard-Studie (Quelle). Auch mRNA-Impfungen sind weniger wirksam gegen die Varianten P.1 (die brasilianische) und P.1.351 (die südafrikanische).

Bringt Brasilien P.1 nicht unter Kontrolle, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass diese gefährliche Mutante nicht nur in ganz Südamerika dominant wird, sondern auch zunehmend im Rest der Welt auftritt. Brasilien wird zudem zum Nährboden für die Entstehung weiterer Varianten, die Impferfolge weltweit ernsthaft gefährden könnten.

Leider besteht kaum Hoffnung, dass Brasilien entschieden gegen P.1 vorgehen wird. Präsident Jair Bolsonaro hat die Risiken des Coronavirus stets heruntergespielt und übertraf mit seinen Aussagen sogar die seines Amtskollegen Trump. “Wie lange wollt Ihr noch weinen?”, fragte er an einer Veranstaltung vorletzte Woche. Zwar ergriffen einzelne Bundesstaaten strenge Massnahmen, doch Bolsonaro sabotiert diese regelmässig. So nannte er Bürger, die sich an Lockdowns halten und zuhause bleiben, Feiglinge.

Tägliche Todesfallzahlen in Brasilien schnellen in die Höhe.

Obwohl Spitäler an ihre Kapazitätsgrenzen stossen, tägliche Todeszahlen neue Höchstwerte erreichen und Platz auf Friedhöfen knapp wird, geniessen Teile der Bevölkerung ihr Leben weiterhin unbesorgt. Der Karneval war dieses Jahr zwar offiziell abgesagt, aber davon liessen sich Tausende nicht abhalten. Sie feierten, in dicht gedrängten Menschenmassen und ohne Masken. Veranstaltungen wurden über WhatsApp und Telegram organisiert. Ortsangaben folgten wenige Stunden im Voraus, um Interventionen durch Behörden zu erschweren.

Was, wenn es B.1.1.7 nicht gäbe?

Zurück in die Schweiz. Die neuen Varianten haben die Dynamik der Pandemie hier entscheidend verändert. Wie wäre die Situation gewesen, hätten die Mutanten nie existiert?

Mit denselben Massnahmen, die ab Januar galten, hätten wir bis Mitte März das einstige BAG-Ziel der 300 Fälle pro Tag erreicht. Hätten wir die Massnahmen bis Mitte April durchgehalten, so wären Fallzahlen auf 100 pro Tag gefallen. Mit strengeren Einschränkungen und einem R-Wert von 0.7 hätten wir die 100 Fälle sogar bereits Mitte Februar erreicht. Und könnten schon längst wieder auf die meisten Massnahmen verzichten.

Aber wäre es tatsächlich so weit gekommen? Ich wage zu behaupten nein. Wir hätten zwischendrin wieder gelockert. Spätestens bei Erreichung von 500 Fällen pro Tag wären Forderungen nach einem Ende des Shutdowns unüberhörbar geworden. “Fälle sinken doch!”, “Die Lage in den Spitälern ist entspannt.”, “Die Bevölkerung kann nicht mehr.”, “Wir fahren die Wirtschaft an die Wand.”.

Auf diese Lockerungen hätte man zuversichtlich wetten können. Denn in der Realität heben wir nun Massnahmen schon bei doppelt so hohen Fallzahlen und deutlich schlechteren Aussichten auf. Wir lockern jetzt trotz zunehmender Dominanz einer ansteckenderen Variante und bereits wieder steigenden Fallzahlen.

Wir verursachen die Wellen, nicht das Virus

Das Coronavirus kommt und geht in Wellen. Einige behaupten, das Virus sei saisonal wie die Grippe und Massnahmen hätten überhaupt keine Wirkung. Die Wellen würden genau gleich erfolgen, auch ohne irgendwelche Vorschriften. Solche Behauptungen sind schwer ernst zu nehmen. Das Virus kann sich nur verbreiten, wenn Menschen sich treffen. Vermeiden wir Kontakte, so gibt es weniger Übertragungen.

Dass die Virusverbreitung nicht allein von der Jahreszeit abhängen kann, zeigt sich schon nach einem ganz kurzen Blick auf die Fallstatistiken benachbarter Länder. Wäre die Entwicklung rein saisonbedingt, würden wir ähnliche Kurven über Länder mit ähnlichem Klima hinweg erwarten.

Entwicklung der Fallzahlen in skandinavischen Ländern. Wären Massnahmen irrelevant, so würden wir ähnliche Entwicklungen erwarten, beispielsweise in Norwegen und Schweden.
Entwicklung der Fallzahlen in einigen zentraleuropäischen Ländern. Wiederum zeigt sich, dass die Virusverbreitung nicht nur von der Saison abhängen kann.

Nein, die Wellenbewegungen werden nicht vom Verhalten des Virus verursacht, sondern vor allem von dem unsrigen. Und zwar sowohl von unserem ganz persönlichen als auch von dem unserer Behörden.

Steigen Fallzahlen und Spitalauslastung an, so verhalten sich die Menschen im Schnitt vorsichtiger. Sinken Fallzahlen und wirkt die Lage in den Spitälern entspannt, so wagen wir mehr Risiken. Gleich verhält es sich mit unseren Behörden. Bei steigenden Fallzahlen sind sie eher bereit, Massnahmen zu ergreifen. Bei sinkenden Fallzahlen kommen sie in Versuchung (und unter Druck), Einschränkungen aufzuheben.

Es ist kein Naturgesetz, dass sich der effektive R-Wert meist zwischen 0.8 und 1.2 bewegt. Unter 0.8 fallen kann er kaum, denn sinken Fallzahlen sichtbar, ist es schwierig, die Bevölkerung für weitere Entbehrungen zu begeistern. Es ist schwer zu vermitteln, dass das Problem nicht kleiner wird, sondern nur weniger schnell grösser.

Steigen Fallzahlen an, so scheint das am Anfang üblicherweise noch nicht bedrohlich. Es beginnt ja langsam. Ist das wirklich ein Trend oder bloss etwas Fluktuation? Lieber noch etwas abwarten, wir wollen ja optimistisch sein und Reaktionen nicht überstürzen. Ab einem R-Wert von 1.3 merkt man’s deutlich, damit werden innerhalb eines Monats aus 1'000 täglichen Fällen 5'000. Da ist man dann eher wieder empfänglich für Einschränkungen.

Schauen wir uns Tschechien, eines der Länder in der vorherigen Graphik, nochmal genauer an:

Fallzahlentwicklung in Tschechien. Die erste Welle im Frühling 2020 war verschwindend klein. Aber ab dem Herbst folgten gleich mehrere starke Wellen.

Tschechien hatte die erste Welle im Frühling letzten Jahres ausgezeichnet gemeistert. Dank eines schnellen Lockdowns und Maskenpflicht sogar im Freien konnten Fallzahlen tief gehalten werden und es gab kaum Tote. Da die Bevölkerung vor allem die Massnahmen spürte, aber kaum das Virus, mehrten sich die Stimmen, die das Virus als harmlos und den Lockdown als übertrieben bezeichneten — eine Form des Präventionsparadoxons: weil Massnahmen wirkten und Leid verhinderten, werden sie als unnötig erachtet.

Die Einschränkungen wurden wieder gelockert und auch die Maskenpflicht aufgehoben. Als Fälle im Sommer wieder leicht anstiegen, forderten Experten eine Wiedereinführung der Maskenpflicht. Premierminister Andrej Babiš entschied sich dagegen, vermutlich auch, weil im Oktober Wahlen anstanden.

Anfang September wurden zudem Schulen wieder geöffnet, was ebenfalls zur Virusverbreitung beitrug. Es folgte eine starke zweite Welle. Doch die Regierung zögerte. Ende Oktober wurde ein harter Lockdown unausweichlich. Er hätte sich nicht vorstellen können, dass so etwas passieren würde, meinte der Premierminister zur Pandemieentwicklung.

Dank des Lockdowns sanken die Fallzahlen wieder. Doch bald wurde die Politik erneut ungeduldig. Die Feiertage standen vor der Tür und man wollte Weihnachts-Shopping ermöglichen. Obwohl die festgelegten Kriterien für Lockerungen (darunter R-Wert und Testpositivitätsrate) nicht erfüllt waren, entschied sich die Regierung für Öffnungsschritte. Hört sich das bekannt an?

Nicht nur ignorierte die Regierung den Rat der Experten, sie erlaubte ihnen auch nicht, direkt zum Volk zu sprechen. Am Fernsehen erschienen jeweils der Gesundheitsminister und der Regierungschef. Letzterer erklärte dem Parlament “Über den Sommer hatten wir so viele Experten, dass die Leute nicht wussten, was wahr ist.”.

Es folgte eine dritte Welle von ähnlichem Ausmass wie die zweite. Und ein weiterer Lockdown nach den Feiertagen. Fallzahlen konnten abermals reduziert werden, doch Ende Januar war ein Wendepunkt erreicht und die Kurve drehte sich wieder nach oben. Vermutlich liegt das auch hier an der zunehmenden Verbreitung der neuen Varianten. Die Lockdown-Massnahmen konnten die alte Variante unter Kontrolle halten, aber für die neuen, ansteckenderen Varianten reichen sie nicht aus.

Bis September waren in Tschechien weniger als 500 Menschen an COVID-19 gestorben dank der erfolgreichen Strategie während der ersten Welle. Seither sind über 22'000 weitere Tote dazugekommen. Auf die Bevölkerung gerechnet, hat das Land bisher 80% mehr Tote als die Schweiz. Ein Grossteil der Todesopfer der neusten Welle wird erst noch folgen.

Wir bestimmen die Form der nächsten Welle

Dass in der Schweiz die dritte Welle bereits begonnen hat, zeigen die Fallzahlen von letzter Woche deutlich. Am Freitag vor einer Woche hatten wir im 7-Tage-Schnitt 1'051 Fälle. Am vergangenen Freitag waren es 1'194, ein Anstieg von 14% innerhalb einer Woche.

Wir folgen weiterhin den Szenarien der Taskforce von Ende Dezember:

Szenarien der Taskforce von Ende Dezember und tatsächliche bisherige Entwicklung der Fallzahlen. Die angenommenen R-Werte der Szenarien A und B sind die der alten Variante. Der effektive R-Wert ist über Zeit zunehmend höher wegen der stärkeren Verbreitung der ansteckenderen neuen Varianten.

Es ist zu befürchten, dass die Fallzahlen weiter ansteigen. Einerseits wegen der stärkeren Verbreitung der ansteckenderen Varianten. Andererseits wegen der gelockerten Massnahmen. Jetzt ist nicht nur mehr erlaubt, sondern die Bevölkerung scheint auch weniger Vorsicht walten zu lassen. Schliesslich wurde ihr in offizieller Kommunikation suggeriert, die Pandemie sei so gut wie vorbei. “Wir können uns weiterhin am Frühling freuen.”, “Bis Ende Juni sind alle geimpft.”.

Bei all diesen positiven Nachrichten erwarten Teile der Bevölkerung nun die schon angekündigten weiteren Lockerungen. Doch drei der vier kommunizierten Kriterien des Bundesrates sind aktuell nicht erfüllt. Der Bundesrat müsste nicht nur auf weitere Öffnungen verzichten, sondern stattdessen strengere Massnahmen ergreifen.

Was ist der Vorteil davon zu warten, bis Fallzahlen noch höher gestiegen sind? Wie viele Tote, wie viele Langzeitgeschädigte und wie viele Firmenpleiten wollen wir uns leisten, für ein bisschen mehr Shopping-Umsatz während ein paar Wochen? Und bis wann wollen wir Restaurants geschlossen halten? Bis im Juli? Möchten wir den Sommer im harten Lockdown verbringen? Steigen Fallzahlen nun steil an, so kann es Monate dauern, bloss um wieder auf das Niveau von 1'000 täglichen Fällen zurückzukommen, welches wir bereits erreicht hatten.

Wann ist die Pandemie endlich vorbei?

Die ursprüngliche Variante von SARS-CoV-2 hat eine Basisreproduktionszahl R0 von 2–3. Das bedeutet, am Anfang der Verbreitung, wenn noch kaum jemand immun ist und keine Massnahmen bestehen, steckt ein Infizierter im Schnitt 2–3 weitere Personen an. Bei den neuen Varianten liegt R0 höher, bei schätzungsweise 2.7 bis 4.5.

Gehen wir nun davon aus, dass wir die Hälfte der Bevölkerung bald impfen können (das würde heissen, über 60% der Erwachsenen, da es für Kinder noch keine zugelassenen Impfstoffe gibt). Wenn wir zudem annehmen, dass Geimpfte und Ungeimpfte im Schnitt gleich viel zur Verbreitung des Virus beigetragen hätten (was fraglich ist, da ältere Menschen prioritär geimpft werden und typischerweise mit weniger Menschen in Kontakt kommen als jüngere), so könnte der effektive R-Wert auf 1.3 bis 2.3 gesenkt werden.

Was bedeutet das? Es zeigt, dass falls wir auf sämtliche Massnahmen zur Eindämmung des Virus verzichteten, es sich weiterhin exponentiell ausbreiten würde unter den Ungeimpften, selbst wenn die Hälfte der Bevölkerung bereits immun wäre. Herdenimmunität erreichen wir so nicht. Einige Massnahmen müssten noch lange beibehalten werden.

Die bereits früher Infizierten habe ich in dieser Beispielrechnung der Einfachheit halber bei den Geimpften mitgezählt. Erreichen uns weitere Virusvarianten aus dem Ausland, gegen die frühere Infektion mit einer anderen Variante nicht schützt oder existierende Impfungen gar weniger wirksam sind, so beginnt das Impfwettrennen von neuem. Die Impfunwilligkeit wäre wiederum eine vielleicht unüberwindbare Hürde zur Herdenimmunität. Wir würden viel besser dastehen, könnten wir die Verbreitung weiterer Varianten im Keim ersticken. Ansonsten versagen wir vermutlich auch auf Schwierigkeitsstufe “Profi”.

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Opa Köbi

Ich mach mir halt so meine Gedanken. Aktuell zu COVID-19 und den Reaktionen insbesondere in der Schweiz. https://twitter.com/OpaKoebi