Gefangen im Zermürbungs-Zyklus

Opa Köbi
5 min readJan 29, 2021

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Wer die Entwicklung der Pandemie weltweit beobachtet, kann leicht feststellen, dass einige Länder ausserordentlich gute Resultate vorweisen können, während andere ganz bittere Bilanzen zeigen.

Die Länder mit Glanzresultaten auf der Gesundheitsdimension haben dies nicht wie oft behauptet durch Einbussen auf der Wirtschaftsseite bezahlt. Im Gegenteil. Die Länder, welche die Epidemie unter Kontrolle brachten und Fallzahlen tief halten konnten, haben im Schnitt auch weniger starke Einbrüche in der Wirtschaft gesehen, wie diverse Analysen zeigen.

Beispiel eines Vergleichs von Todeszahlen und Wirtschaftsentwicklung — für Q2 2020, also die erste Welle (Quelle).

Wer jetzt zurückblickt, muss zugeben, dass es uns viel besser ergangen wäre, hätte Europe eine ähnliche Strategie gewählt wie beispielsweise Neuseeland oder Australien. Und ja, das wäre möglich gewesen, trotz geographischer Unterschiede. Aber selbst viele, die das erkennen, sind jetzt nicht zu einem Umdenken bereit. “Zugegeben, wir hätten das anders machen sollen. Nachher ist man immer schlauer. Dumm gelaufen. Aber jetzt lohnt sich das nicht mehr. Ist ja so gut wie vorbei.”

Mit dieser Einstellung verpassen wir eine Chance nach der anderen, die Pandemie in den Griff zu kriegen. Die negativen Konsequenzen sind bedeutend. Für die Gesundheit. Für die Wirtschaft. Für die Gesellschaft. Wir gewinnen nichts.

Heute möchte ich mich auf einen Aspekt konzentrieren, der meiner Ansicht nach zu wenig Beachtung findet: die Psychologie. Und dazu möchte ich ein Konzept vorstellen, das ich den “Zermürbungs-Zyklus” nenne:

Der Zermürbungs-Zyklus.

Wir haben bereits mehrere solchen Zyklen hinter uns und weitere werden vermutlich folgen.

Je öfter wir diesen Zyklus durchlaufen, desto mehr erschöpfen wir unsere Ressourcen. Wir verlieren nicht nur Geduld und Durchhaltewillen, sondern strapazieren auch Beziehungen und viele von uns verbrauchen zudem finanzielle Rückstellungen. So auch der Staat, wie Ueli Maurer bei jeder Gelegenheit betont.

Je länger Massnahmen andauern, desto weniger sind wir in der Lage, die Kraft und Disziplin aufzubringen, uns an sie zu halten oder sogar noch mehr beizutragen als das vorgeschriebene Minimum. Gleichzeitig steigt aufgrund der zunehmenden Verbreitung der neuen Virusvarianten die Notwendigkeit strenger Massnahmen laufend an.

Und so könnten wir uns in wenigen Wochen in einer Situation wiederfinden, in der die Bereitschaft der Bevölkerung zu weiteren Entbehrungen einen Tiefstand erreicht. Gleichzeitig wird die konsequente Einhaltung von strengeren Massnahmen denn je gefordert sein, um Auswirkungen katastrophalen Ausmasses abzuwenden.

Um es nicht so weit kommen zu lassen, muss es uns gelingen, aus diesem Zyklus herauszubrechen.

Was ist die Alternative?

Bereits seit Wochen predige ich, dass wer sich ein schnelles Ende von Massnahmen wünscht, sich für mehr Massnahmen starkmachen sollte, nicht für weniger. Wir sollten mit ganz harten Massnahmen beginnen und diese dann vorsichtig schrittweise lockern.

Das wäre nicht nur aus epidemiologischer und wirtschaftlicher Sicht der bessere Weg. Nein, auch psychologisch wäre die Pandemiebewältigung so besser auszuhalten.

Aktuell wird alles immer schlimmer und es ist kein Ende in Sicht. Beginnen wir stattdessen mit den härtesten Massnahmen, so kann es nur noch besser werden. Das hört sich nun vielleicht an wie eine blöde Binsenwahrheit, aber ich bin überzeugt, dass sich die Dynamik zum Besseren wenden würde.

Das glaubt auch die Gruppe Deutscher Wissenschaftler, die ein Papier zu ihrer “No Covid”-Strategie veröffentlichte. Ich vermute, dass sie bewusst den Begriff “Zero Covid” vermieden haben, weil er in Verruf geraten ist, zu extrem zu sein. Grundsätzlich scheinen aber beide Strategien dieselbe Grundphilosophie zu verfolgen: Fälle möglichst tief senken und tief halten, damit wieder ein normales Leben möglich wird und grossflächige Massnahmen, unter denen alle leiden, durch gezielte lokale Massnahmen ersetzt werden können, die nur sehr wenige betreffen. Der Weg dorthin ist bei “No Covid” und “Zero Covid” auch grundsätzlich derselbe, nur würden “Zero Covid”-Verfechter härtere Massnahmen noch etwas länger beibehalten, um Fallzahlen weiter zu drücken.

Weshalb die Zahl Null als Ziel am Horizont in diesem Fall zu so heftigen Abwehrreaktionen führt und als unrealistisch bezeichnet wird, ist mir ein Rätsel. In anderen Bereichen haben wir uns ebenfalls eine Null als Ziel gesetzt, beispielsweise für Unfallopfer im Strassenverkehr mit “Vision Zero”. Da haben wir verstanden, dass es weniger um die konkrete Zahl geht, sondern darum, ein Ziel vor Augen zu haben, dem wir uns schrittweise nähern. Die Richtungsvorgabe steht im Zentrum, nicht der Endwert.

Darum geht es auch bei “No Covid”. Zudem erlaubt die Strategie mit dem Modell der “Grünen Zonen”, lokal bleibende Erfolge zu erzielen, auch wenn dies anderswo nicht geschieht. Gelingt einer Region die ausreichende Reduktion der Fallzahlen (das Papier nennt eine Inzidenz von 10 pro 100’000 pro Woche als Grenzwert), so können Massnahmen gelockert werden. Fälle werden aber weiterhin gegen null gesenkt, damit die Region zur “Grünen Zone” erklärt werden kann. Gleichzeitig muss durch Mobilitätsbeschränkungen und Quarantäneregeln sichergestellt werden, dass nicht wieder Fälle aus anderen Gebieten importiert werden und neue Ansteckungen verursachen.

Über Zeit bilden sich mehr und mehr Grüne Zonen, denen ein uneingeschränkter Austausch untereinander erlaubt werden kann. So könnten schrittweise ganze Kantone, die ganze Schweiz, und schliesslich auch weite Teile Europas zu einer gemeinsamen Grünen Zone werden. Kommt es doch wieder zu Ausbrüchen, so werden lokal strengere Massnahmen ergriffen, um die Verbreitung des Virus im Keim zu ersticken und den Status einer Grünen Zone für die Region wiederherzustellen.

Der aktuelle Stand und die Entwicklungen müssen dabei klar und verständlich an die Bevölkerung kommuniziert werden, idealerweise täglich. Damit hat sie einen Anreiz, dazu beizutragen, die Region zur Grünen Zone zu machen und diesen Status auch zu erhalten. Dieser Einsatz wird belohnt mit Lockerungen, die beibehalten werden können, solange man wachsam bleibt und schnell reagiert.

Dieser Ansatz führt zu deutlich sinnvolleren Anreizen. Wer weiss, dass Massnahmen gelockert werden, wenn gewisse Zielwerte an Fallzahlen erreicht werden, hat eine Perspektive und ist bereit, mehr beizutragen, um das Ziel schneller zu erreichen. Und es ist auch klar, dass alle gemeinsam für den Erfolg verantwortlich sind.

Im Gegensatz dazu zeigt sich bei uns aktuell ein anderes Bild: Wer damit rechnet, dass Massnahmen bald verschärft werden, möchte möglichst geniessen, was noch erlaubt ist. Nochmal ins Restaurant, bevor es schliessen muss. Schnell noch etwas Ski fahren. Noch ein paar Freunde treffen. Wer freiwillig zusätzlichen Verzicht auf sich nimmt zum Wohle der Allgemeinheit, ist der Dumme, weil er nachher genauso unter den zusätzlichen Massnahmen zu leiden hat.

Und so bleiben wir gefangen im Zermürbungs-Zyklus und machen eine Runde nach der anderen. Ein Umdenken würde sich also auch aus Sicht der Psychologie lohnen — zusätzlich zu den Vorteilen auf den anderen Dimensionen.

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Opa Köbi
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Written by Opa Köbi

Ich mach mir halt so meine Gedanken. Aktuell zu COVID-19 und den Reaktionen insbesondere in der Schweiz. https://twitter.com/OpaKoebi