Die Szenarien waren verblüffend zuverlässig

Opa Köbi
15 min readApr 29, 2021

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Vorstellung der Szenarien der wissenschaftlichen Taskforce an der Pressekonferenz vom 29. Dezember 2020.

Vor genau vier Monaten, am 29. Dezember 2020, stellte die wissenschaftliche Taskforce Szenarien der Pandemieentwicklung vor. Sie zeigten mögliche Entwicklungen der täglichen Fallzahlen bis Ende April. Diese Szenarien sahen folgendermassen aus:

Szenarien der Taskforce zur Entwicklung der täglichen Fallzahlen von Anfang Januar bis Ende April.

Diese Szenarien wurden damals heftig kritisiert. Panikmache wurde der Taskforce vorgeworfen. Von einem “Schreckensszenario” sprach der Tages-Anzeiger in seiner Headline. Bei 20 Minuten war’s ein “Horror-Szenario”.

Die Szenarien stellten sich jedoch als äusserst realistisch heraus. Die tatsächlichen Fallzahlen folgten ihnen zuverlässig:

Szenarien der Taskforce von Ende Dezember und tatsächliche Entwicklung der täglichen Fallzahlen.

Die rote Linie der tatsächlichen Fallzahlen liegt meist leicht über der blauen Kurve von Szenario B und folgt ihr sehr genau. Doch ab Anfang April ändert sich etwas. Die Zahl täglicher Tests ist seit Ostern stark gesunken, während die Testpositivitätsrate gleichzeitig anstieg. Es ist daher zu vermuten, dass die gemeldeten Fallzahlen das Infektionsgeschehen nicht mehr gleich zuverlässig abbilden und tendenziell zu tief sind. Wir erörtern später, woran das liegen könnte.

Beschränken wir die vertikale Achse auf den Bereich der tatsächlichen Fallzahlenentwicklung, so wird noch deutlicher, wie genau das Ab und Auf dem Szenario B folgte:

Szenarien der Taskforce von Ende Dezember und tatsächliche Entwicklung der täglichen Fallzahlen. Das blaue Szenario B beschrieb die Dynamik sehr zuverlässig. Monate im Voraus.

Im Dezember wussten wir noch wenig über die neuen Varianten. Wie konnte die Taskforce also die Zukunft so genau “vorhersehen” — über mehrere Monate? Hatte sie eine Kristallkugel?

Die Szenarien waren keine Prognosen. Dieser Artikel erklärt, weshalb sie trotzdem verblüffend richtig lagen. Und weshalb sie auch sehr wertvoll gewesen wären, wenn sich die Fallzahlen anders entwickelt hätten.

Was sagten uns die Szenarien?

Die Szenarien erklären, welche Entwicklung unter welchen Annahmen zu erwarten wäre. Ein Szenario sagt: “Wenn die Grundlogik des Modells zutrifft und wir Parameter folgendermassen wählen, dann würden wir diese Entwicklung der Fallzahlen erwarten.”

Szenario A sagt: “Wenn unsere Massnahmen den R-Wert der alten Variante konstant bei 0.9 halten könnten, so würden wir erwarten, dass Gesamtfallzahlen bis Mitte Februar auf etwa 2'000 sinken und dann wieder ansteigen. Im März und April sehr deutlich auf schliesslich über 20'000 pro Tag.”

Szenario B sagt: “Wenn unsere Massnahmen den R-Wert der alten Variante konstant bei 0.8 halten könnten, so würden wir erwarten, dass Gesamtfallzahlen bis Anfang März auf etwa 600 sinken und dann wieder ansteigen. Bis Ende April auf über 3'000 pro Tag.”

Natürlich wird der R-Wert in Realität nicht gleich bleiben über mehrere Monate. Die Szenarien vereinfachen hier und geben Anhaltspunkte. Fluktuiert der R-Wert (der alten Variante) beispielsweise zwischen 0.8 und 0.9, so würden wir eine Entwicklung der Fallzahlen zwischen den beiden Kurven A und B erwarten. Liegt er meist über 0.9, so würden wir eine Kurve über der orange-braunen erwarten. Liegt er meist unter 0.8, so wäre mit einer Kurve unter der blauen zu rechnen.

Die Szenarien machen keinerlei Aussagen über die Wirkung von Massnahmen. Wie ein bestimmter R-Wert erreicht werden kann, ist nicht Thema des Modells. Auch dazu, wann welche Massnahmen ergriffen werden, hat das Modell keine Erwartungen. Der R-Wert ist ein Input ins Modell.

Dass wir die hohen Fallzahlen von Szenario A im April nicht erreicht haben, ist nicht auf einen Mangel am Modell zurückzuführen. Sondern darauf, dass Massnahmen und Verhalten der Bevölkerung zu stärkeren Kontaktreduktionen geführt haben als die, von denen Szenario A ausgeht. Unter anderem vermutlich auch deshalb, weil die Warnungen der Taskforce gewirkt haben.

Was ist die Grundlogik des Modells?

Hier muss ich erst klarstellen, dass ich keinen Zugang habe zum Modell der Taskforce. Ich kenne lediglich die Kurven und Annahmen, die an der Pressekonferenz gezeigt wurden. Da das Modell nicht besonders komplex ist, bin ich jedoch zuversichtlich, dass ich richtig nachvollzogen habe, was die Taskforce gerechnet hat.

Das Modell geht von zwei Epidemien aus, die sich unabhängig voneinander ausbreiten: die der ursprünglichen, “alten” Variante und die einer neuen, ansteckenderen Variante. Beide Viren breiten sich im selben Umfeld aus. Schränken wir Kontakte mehr ein, so verbreiten sich beide langsamer.

Wie schnell sich eine Variante ausbreitet, wird durch ihre Reproduktionszahl beschrieben, den bekannten R-Wert. Dieser drückt aus, an wie viele Kontakte ein Angesteckter das Virus im Schnitt weitergibt. Unter denselben Umständen liegt der R-Wert der neuen Variante höher als der der alten, weil erstere ansteckender ist.

Der R-Wert der alten Variante wird im Modell als konstant angenommen, er bleibt gleich über die gesamte Zeitperiode. Der R-Wert der neuen Variante liegt höher, bleibt aber ebenfalls unverändert gleich über die Zeit.

Der effektive R-Wert wird aufgrund der Gesamtfallzahlen bestimmt. Er verrät, wie viele Personen ein Angesteckter im Schnitt infiziert, über beide Varianten hinweg. Der effektive R-Wert ist Anfang Januar sehr nahe am R-Wert der alten Variante, da diese den Grossteil der Fälle ausmacht. Bis zum Ende der Periode steigt er er an bis zum R-Wert der neuen Variante, weil diese über die Zeit immer dominanter wird.

Welche Parameter bestimmen die Ergebnisse des Modells?

Die Parameter des Modells sind folgende:

  • Anzahl Fälle am 1. Januar: Die Taskforce ging hier von 4'000 Fällen aus. Das entsprach in etwa dem Niveau der vorhergehenden Tage. Die tatsächlichen Fallzahlen wurden aufgrund der Feiertage erst am 4. Januar wieder gemeldet. Sie lagen etwas tiefer, weil um Neujahr weniger getestet wurde.
  • Anteil der neuen Variante: Hier nahm die Taskforce an, dass es sich bei 1% der Fälle am 1. Januar um die neue Variante handelt. Das war eine Schätzung.
  • Erhöhte Ansteckungsfähigkeit der neuen Variante: Dieser Parameter beantwortet die Frage, wie viel ansteckender die neue Variante ist im Vergleich zu der alten. Die Taskforce ging hier von 50% aus. Dies war eine konservative Annahme, da Berichte aus Grossbritannien zu diesem Zeitpunkt von 40–70% ausgingen.
  • Generationsintervall: Das ist die Anzahl Tage, die es im Schnitt dauert, bis ein Infizierter R weitere Menschen ansteckt. Die Taskforce machte zu diesem Parameter keine Angaben, aber wählt man 5 Tage, so passen die Kurven mit ihren überein.

Diese Parameter sind für beide Szenarien gleich. Die Szenarien unterscheiden sich nur im angenommenen R-Wert für die alte Variante. Der R-Wert der neuen Variante ist höher entsprechend dem Parameter zur Ansteckungsfähigkeit.

Was geschieht, wenn die Parameter anders gewählt werden?

Nationalrat (und Direktor des Schweizer Gewerbeverbandes) Hans-Ulrich Bigler warf der Taskforce in der “Arena” vom 5. März vor, Modellparameter so gewählt zu haben, dass ein möglichst schlimmes Ergebnis rauskommt. “Wenn man ein bisschen am Parameter schraubt, gibt es ganz andere Resultate.” Er beschuldigte die Taskforce, jeweils “den grössten, gefährlichsten anzunehmenden Fall” zu kommunizieren.

Ist dem so? Hat Bigler recht? Hat die Taskforce die schlimmstmöglichen Ergebnisse gezeigt? Und kommen “ganz andere Resultate” raus, wenn man einzelne Parameter leicht verändert?

Probieren wir’s aus. Wir ändern jeweils einen Parameter und lassen die anderen unangetastet. Wir nehmen hier Szenario A als Basis und beobachten, wie sich die Resultate verändern, wenn wir Parameterwerte anpassen. Wir nutzen dieses Szenario nicht, weil es relevanter wäre, sondern weil Differenzen besser sichtbar werden aufgrund der stärkeren Veränderungen über die Zeit.

Anzahl Fälle am 1. Januar
Wie hätten sich die Resultate verändert, wenn die Taskforce von 3'000 oder 5'000 Fällen am 1. Januar ausgegangen wäre anstatt der gewählten 4'000?

Szenario A der Taskforce sowie zwei angepasste Szenarien mit anderen Startwerten am 1. Januar.

Die Ergebnisse hätten sich kaum verändert.

Anteil der neuen Variante
Wie hätten sich die Ergebnisse verändert, wenn die Taskforce einen kleineren oder grösseren Anteil der neuen Variante angenommen hätte am 1. Januar?

Szenario A der Taskforce sowie zwei angepasste Szenarien mit einem anderen Anteil der neuen Variante an Fällen am 1. Januar.

Bis Anfang Februar hätten sich die erwarteten Gesamtfallzahlen kaum verändert. Nachher wären die Kurven etwas auseinandergegangen.

Erhöhte Ansteckungsfähigkeit der neuen Variante
Was wäre geschehen, wenn die Taskforce eine andere erhöhte Ansteckungsfähigkeit der neuen Variante gewählt hätte?

Szenario A der Taskforce sowie zwei angepasste Szenarien mit einer neuen Variante, die nur 40% oder gar 60% ansteckender ist (anstatt der von der Taskforce gewählten 50%).

Hier zeigen sich sehr deutliche Unterschiede. Das liegt an den “Zinseszins”-Effekten, die von der erhöhten Ansteckungsfähigkeit stark beeinflusst werden.

Generationsintervall
Wie würde es sich auswirken, wenn die Taskforce eine andere Dauer des Generationsintervalls gewählt hätte?

Szenario A der Taskforce sowie zwei angepasste Szenarien mit anderen Generationsintervallen.

Auch hier zeigen sich deutlichere Unterschiede. Wiederum aufgrund des Einflusses auf die “Zinseszins”-Effekte. Innerhalb von zwei Monaten durchlaufen wir mit einem 6-Tage-Intervall 10 Generationen. Mit einem 5-Tage-Intervall sind es 12. Bei einem 4-Tage-Intervall gar 15. Mit jeder Generation steigen die Fallzahlen exponentiell an.

Sind Biglers Vorwürfe also gerechtfertigt? Nein, absolut nicht. Erstens zeigt sich, dass nicht “ganz andere Resultate” rauskommen, wenn man ein bisschen an einzelnen Parametern schraubt. Die Grunddynamik bleibt in allen Szenarien dieselbe: Gesamtfallzahlen sinken erst und die fallenden Zahlen der alten Variante verdecken den Anstieg der neuen Variante. Doch irgendwann kommt ein Wendepunkt und die Fälle der neuen Variante steigen schneller an als die der alten abfallen.

Leichte Anpassung der Parameter ändert das Grundverhalten nicht: Die Fälle der alten Variante sinken, während die der neuen ansteigen. Das bleibt erst unbemerkt, wenn man sich nur Gesamtfallzahlen anschaut.

Und hat die Taskforce absichtlich Parameter gewählt, die den schlimmsten möglichen Fall zeigen? Nein, auch das nicht.

Verschiedene mögliche Szenarien mit unterschiedlich gewählten Parameter-Werten. Die tatsächlich kommunizierten Szenarien A und B sind hervorgehoben.

Diese vielen grauen Kurven zeigen all die möglichen Szenarien, welche die Taskforce hätte kreieren können alleine basierend auf Kombinationen der Parameter-Beispielwerte, die wir uns weiter oben angeschaut haben. Die Kurve ganz links mit dem schnellsten Anstieg startet mit 5'000 Fällen am 1. Januar, nimmt da schon einen Anteil von 2.0% der neuen Variante an, eine 60% höhere Ansteckungsfähigkeit, und ein Generationsintervall von 4 Tagen sowie einen R-Wert (der alten Variante) von 0.9. Die flachste Kurve geht von 3'000 Fällen am 1. Januar aus, einem Anteil von 0.5% der Mutante, die 40% ansteckender ist, sowie einem Generationsintervall von 6 Tagen und einem R-Wert von 0.8.

Hätte die Taskforce einen oder gar mehrere Parameter anders gesetzt, hätte sie also beängstigendere Szenarien schaffen können. Doch das war nie das Ziel der Taskforce. Sie denkt nicht wie Politiker oder Wirtschaftsverbände. Sie verfolgt nicht politische Ziele und versucht Fakten so zurechtzubiegen, dass sie ihre Forderungen unterstützen. Sie bemüht sich schlicht, das beste aktuelle wissenschaftliche Verständnis und objektive Erwartungen für die Zukunft zu kommunizieren.

Dies tat sie sehr erfolgreich. Die Realität gibt ihr recht. Ihre Szenarien haben sich bewahrheitet.

Was, wenn es alles anders gekommen wäre?

Seit Anfang Januar habe ich auf Twitter jeweils am Freitag ein Update dazu veröffentlicht, wie sich die gemeldeten Fallzahlen im Verhältnis zu den Taskforce-Szenarien entwickelten. Ich konnte damals noch nicht wissen, wie zuverlässig sich die Szenarien erweisen würden. Doch ich war überzeugt, dass sie in jedem Fall wertvoll sein würden.

Hätten sich die tatsächlichen Fallzahlen anders entwickelt, so hätten uns die Szenarien geholfen, die Dynamik besser zu verstehen. Inwiefern weicht sie von den Erwartungen ab? Was können wir daraus lernen?

Da der effektive R-Wert im Dezember kaum je unter 0.9 gefallen war, hielt ich die Taskforce-Szenarien für zu optimistisch. Würden Massnahmen unverändert bleiben oder gar gelockert werden im Januar (wie ursprünglich angekündigt — Restaurants hätten ja am 22. Januar wieder öffnen sollen), so konnte ich mir vorstellen, dass wir uns auf einer Kurve über der orange-braunen bewegen würden. Ich hatte daher zwei weitere Szenarien hinzugefügt:

Die zwei Szenarien A und B der Taskforce und zwei weitere Szenarien C und D, sie sich lediglich im angenommenen R-Wert der alten Variante unterscheiden.

Hätten wir uns in die Richtung von Szenario C oder D bewegt, so wäre dies ein Hinweis gewesen, dass der R-Wert tatsächlich höher liegt. Glücklicherweise hat der Bundesrat Mitte Januar Massnahmen verschärft und so konnten tiefere R-Werte sichergestellt werden.

Übrigens ein weiterer Hebel, welcher der Taskforce erlaubt hätte, deutlich furchteinflössendere Szenarien zu zeigen: höhere R-Werte. Die haben sie nicht gewählt. Die Taskforce war optimistisch, Herr Bigler.

Als es Diskussionen gab, ob B.1.1.7 nun doch nur 35% ansteckender ist, konnten wir prüfen, wie sich die Modellergebnisse dadurch verändern würden. Und das wiederum mit der Realität abgleichen.

Anfang März — sozusagen Halbzeit in der Szenarien-Periode — hatte ich erwartet, dass sich die Fallzahlen in etwa entlang der violetten Linie weiterentwickeln würden, falls sich nichts ändert. Dem war dann auch so, zumindest bis Ende März. Ab April änderte sich etwas. Die Zahlen stiegen nicht so schnell an, wie ich das erwartet hätte.

Die weitere Entwicklung der Fallzahlen, mit der ich Anfang März gerechnet hatte, falls sich nichts verändern würde (violette Linie).

Das Modell ist trotzdem hilfreich. Denn wir können nicht nur erkennen, dass sich etwas verändert hat, sondern nun auch versuchen zu ergründen, was geschehen ist.

  • Wirken die Impfungen schon? — Nein, vermutlich nicht. Das ist zu früh, zu wenige sind geimpft. Und die Geimpften sind vor allem die älteren Semester, die weniger mobil sind und daher auch weniger zur Virusverbreitung beitragen als jüngere.
  • Hilft das Wetter? — Vielleicht. Finden mehr Interaktionen im Freien statt und nicht in Innenräumen, so kommt es zu weniger Übertragungen.
  • Ist B.1.1.7 doch weniger ansteckend? — Unwahrscheinlich. Dagegen sprechen internationale Erfahrungen und Studien sowie die Tatsache, dass die Szenarien bisher sehr zutreffend waren. Die Ansteckungsrate von B.1.1.7 würde sich nicht plötzlich verändern.
  • Liegt es am Testverhalten? — Sehr wahrscheinlich spielt dieser Faktor eine entscheidende Rolle. Die Zahl der Tests ging ab Ostern Anfang April deutlich runter. Dieses Phänomen kennen wir schon von anderen Festtagen. Auch anschliessend gingen Testzahlen weiter runter. Gleichzeitig schnellte die Testpositivitätsrate hoch, wobei aber auch Vorselektionseffekte durch Schnelltests eine Rolle spielen (leider scheint nicht bekannt zu sein, wie viele der PCR-Tests als Bestätigungen von positiven Schnelltests dienten, das wäre aufschlussreich). Die Selbsttests waren ab dem 7. April verfügbar. Verzichten Leute auf PCR-Tests und machen stattdessen Selbsttests, die häufig falsch-negativ sein können in den ersten etwa zwei Tagen, während derer man bereits ansteckend ist? Und werden positive Resultate vielleicht geheim gehalten und auf eine Bestätigung durch PCR verzichtet?
  • Finden wegen der Schulferien weniger Ansteckungen statt? — Auch diese Theorie hat ihre Berechtigung.

Es ist also stark zu vermuten, dass das veränderte Testverhalten der Bevölkerung dazu führt, dass ein geringerer Anteil der Ansteckungen gemeldet wird. Das wird aber nicht der einzige Effekt sein.

Die Zahl der täglich durchgeführten und gemeldeten Tests ist seit Anfang April deutlich gesunken (Graphik des Tages-Anzeigers).

Messungen von Coronavirus-Genmaterial im Abwasser können Erkenntnisse zur Virusverbreitung erlauben, die unabhängig sind vom Testverhalten. Werte von der Kläranlage Werdhölzli in Zürich zeigen, dass in der ersten Aprilhälfte mehr Virusmaterial gefunden wurde, als Fallzahlen basierend auf Tests vermuten liessen. Der Anstieg hat sich aber vom 13. bis 24. April nicht fortgesetzt und Werte lagen wieder tiefer, was optimistisch stimmt. Neuere Werte sind noch keine verfügbar.

Messungen von Coronavirus-Genmaterial aus der Kläranlage Werdhölzli (Graphik des Tages-Anzeigers).

Es wird sich lohnen, auch in Zukunft ein Auge auf diese Messungen zu haben — als zusätzliches Signal zum Verständnis der Virusverbreitung. Es kann frühzeitig vor einem Anstieg warnen, den wir in Fallzahlen und Hospitalisierungen erst später erkennen werden. Oder Entwarnung untermauern, falls ein Abwärtstrend in den Fallzahlen auch von den Abwassermessungen bestätigt wird.

Auch diese Zahlen sind jedoch nicht frei von Verzerrungen. Aufgrund der Schulferien im Kanton Zürich sitzen aktuell viele Schulkinder und ihre Familien (die Gruppen mit den höchsten Ansteckungsraten) auf Klos ausserhalb des Einzugsgebiets der Kläranlage Werdhölzli.

Welche Kritik musste sich die Taskforce gefallen lassen?

Vielleicht waren einzelne Annahmen der Taskforce nicht Volltreffer. Über Zeit werden wir das besser verstehen. Insgesamt scheint sie aber goldrichtig gelegen zu sein. In Anbetracht der wenigen gesicherten Daten, die Ende Dezember verfügbar waren, hat die Taskforce beeindruckend verlässliche Szenarien skizziert.

Bereits Ende Dezember musste sich die Taskforce aber vorwerfen lassen, “unrealistische Horrorszenarien” geschaffen zu haben. Im Februar hörte man Argumente im Stil von “Die Fälle steigen nicht an, die Mutanten sind daher ungefährlich.”. Wer das behauptete, hatte schlicht die Zusammenhänge nicht verstanden. Die sinkenden Fallzahlen der alten Variante verdeckten in den Gesamtfallzahlen den Anstieg der neuen Varianten. Genau so, wie dies die Taskforce erwartet hatte in ihren Szenarien.

Noch im März las man häufig Beschwerden à la “Die Horrorszenarien sind nicht eingetreten.”. Welche Szenarien haben sich diese Kritiker denn eingebildet? Den Szenarien der Taskforce folgten wir sehr genau. Die sind eingetreten!

Ein weiterer häufiger Einwand hörte sich in etwa so an: “Der R-Wert liegt schon seit Wochen über 1.0. Viel höher als die 0.8 und 0.9 in den Szenarien der Taskforce. Die Zahlen müssten schon längst explodiert sein und zehntausende Fälle pro Tag erreicht haben.” Dieser Kritik liegt ein Missverständnis zugrunde.

Die R-Werte 0.8 and 0.9 in den Szenarien beziehen sich auf die alte Variante. Die Szenarien nehmen an, dass der R-Wert der alten Variante konstant bleibt über die gesamte Periode. Der R-Wert der neuen Variante bleibt ebenfalls gleich, liegt aber 50% höher. Der effektive R-Wert steigt über die Zeit, weil der Anteil der neuen Variante zunimmt. Der regelmässig in den Medien kommunizierte R-Wert ist der effektive R-Wert. Das Modell erwartet, dass dieser ansteigt im Vergleich zu den in den Szenarien genannten R-Werten der alten Variante. Ein effektiver R-Wert über 1.0 ab der zweiten Hälfte von Februar ist also konsistent mit dem Modell, die Szenarien erwarten ihn.

Die Szenarien erwarten, dass der Anteil der neuen Varianten über Zeit zunimmt. Anfang Jahr machten sie nur einen ganz kleinen Teil der Fälle aus. Unterdessen sind sie für fast alle neuen Fälle verantwortlich. …
… Damit steigt auch der effektive R-Wert über Zeit an. Je grösser der Anteil der neuen Varianten, desto höher der effektive R-Wert. Hier gezeigt für Szenario B. Den vom Szenario erwarteten Höchstwert von 1.2 haben wir bisher nicht erreicht basierend auf den gemeldeten Fallzahlen.

Ein ähnlicher Vorwurf lautet, dass mit aktuellen R-Werten Fallzahlen schon längst viel höher sein müssten. Wer dies behauptet, versteht den Zusammenhang zwischen R-Wert und Fallzahlen nicht. Die Schätzung des R-Werts ergibt sich aus den Fallzahlen. Die zwei hängen direkt zusammen, sie können sich nicht auseinanderbewegen.

Im März meldete sich Biglers Stellvertreter beim Gewerbeverband zu Wort. “Die Taskforce kann keine Wissenschaft.”, verkündete Henrique Schneider auf Inside Paradeplatz. Ihren Lagebericht mit Schätzungen von R-Werten kritisierte er wie folgt: “Neben den vielen Fehlern im wissenschaftlichen Handwerk bieten die Zahlen, wenn überhaupt, Grund zur Aussage, dass sich die Epidemie abschwächt.”

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Schneiders Text waren 167 Betten auf Intensivstationen von COVID-Patienten belegt. Vier Wochen später waren es 251, 50% mehr. Die Behauptung, die Epidemie schwäche sich ab, scheint also hinreichend widerlegt. Ich erwarte gespannt eine Entschuldigung von Herrn Schneider nicht nur an die ungerechtfertigterweise verunglimpfte Taskforce, sondern auch an die COVID-Betroffenen und ihre Angehörigen, denen eine frühere Reaktion viel Leid erspart hätte. Beiträge wie seiner haben entschiedenes Handeln unnötig verzögert — und tun es weiterhin.

Eine weitere Art der Kritik wirft der Taskforce vor, während des Pferderennens plötzlich auf einen anderen Gaul gesetzt zu haben. “Als Szenario A nicht eintrat, haben sie einfach Szenario B erfunden.” Diese Vorwürfe missverstehen erstens Rolle und Motivation der Taskforce. Sie macht keine Vorhersagen, mit denen sie Wetten gewinnen möchte. Sie versucht bloss, Zusammenhänge und Erwartungen aufzuzeigen. Zweitens ist Szenario B nicht neuer als Szenario A. Beide Szenarien wurden gleichzeitig gezeigt an der Pressekonferenz vom 29. Dezember 2020. Sie waren beide gleichwertig. Ja, viele Überschriften und Graphiken in Pressereaktionen haben sich auf Szenario A und dessen Höchstwerte konzentriert. Die Taskforce hat aber keine Rangordnung der Szenarien ausgedrückt. Und drittens sind die Szenarien als Beispiele zu verstehen, die Spannbreiten aufzeigen, innerhalb derer sich Fallzahlen unter gewissen Bedingungen bewegen würden. Die Taskforce erwartete nicht, dass die reale Entwicklung genau auf diesen Linien erfolgen wird.

Die Taskforce hat während der letzten vier Monate auch mehrmals aktualisierte Szenarien gezeigt, die illustrierten, wie die Fallzahlenentwicklung weitergehen würde, falls sich Trends der vorhergehenden Tage fortsetzten. Kritiker weisen gerne auf eine Aussage aus dem Februar hin, dass sich die Fallzahlen der neuen Variante alle 10 Tage verdoppelten. Dieser Wert basierte auf Schätzungen tatsächlicher Fälle und nicht auf einem Modell. Er beschrieb die Vergangenheit und war keine Vorhersage der Zukunft.

In einem Modell zeigte die Taskforce auf, wie sich eine Verdopplung alle 15 Tage auswirken würde. Auch dies war keine Wette, sondern eine Erklärung der Dynamik. Ähnlich wie bei den Szenarien zur Intensivbettenbelegung aus dem Herbst spielt hier auch wieder eine Form des Präventionsparadoxons mit: Wegen der Warnungen der Taskforce verhält sich die Bevölkerung vorsichtiger und deswegen treten die befürchteten Szenarien nicht ganz so schlimm ein. Das ist ja genau Sinn und Zweck solcher Kommunikation!

Am 12. April war in der NZZ (in einem “Gastkommentar”) Folgendes zu lesen: “Die Modellierungen zum möglichen Verlauf der Corona-Pandemie lagen in der Vergangenheit häufig daneben — so auch das Szenario mit der britischen Mutation. Die Politik müsste das endlich eingestehen.” Und weiter: “Die Mutanten-Welle ist also trotz Lockerungen ausgeblieben.”

Diese Kritik ist schwer nachzuvollziehen. Man muss nur die blaue und die rote Linie vergleichen, um zu verstehen, dass die Taskforce nicht daneben gelegen ist. Im Gegenteil, sie hat über vier Monate im Voraus die Entwicklung der täglichen Fallzahlen beeindruckend gut abgeschätzt.

Szenarien der Taskforce von Ende Dezember und tatsächliche Entwicklung der täglichen Fallzahlen. Ist es fair, die blaue Kurve von Szenario B und die rote Linie der tatsächlichen Fallzahlen zu vergleichen und zum Schluss zu kommen, die Taskforce sei völlig daneben gelegen?

Die Motivation der Taskforce war nicht, die Zukunft vorherzusagen oder Wetten zu gewinnen. Nein, sie wollte die Dynamik erklären und illustrieren, was uns erwarten könnte. Und einen Weg aus der Pandemie aufzeigen. Es blieb nämlich nicht bei Szenarien A und B. In Form der blau gestrichelten Linie demonstrierte sie den Effekt von gezieltem und intensivem Testen, Tracing, Isolation und Quarantäne. Damit hätten wir B.1.1.7 unter Kontrolle bringen können und hätten schon längst sehr tiefe Fallzahlen erreicht.

Empfehlung der Taskforce von Ende Dezember, mit gezieltem und intensivem Testen, Tracing, Isolation und Quarantäne die Virusverbreitung zu unterbinden und Fallzahlen gegen null zu senken.

Doch die Politik hat erneut nicht auf die Wissenschaft gehört. Stattdessen wurde im Januar und Februar die Reduktion der täglichen Fallzahlen zum Anlass genommen, das Ende der Pandemie zu verkünden. Dass die Taskforce genau diese Entwicklung — und einen anschliessenden Wiederanstieg der Fallzahlen — erwartet hatte, wurde dabei ignoriert.

Wie geht es nun weiter?

Was uns in der Zukunft erwartet, können uns diese Szenarien leider nicht verraten. Sie basieren auf sehr einfachen Annahmen und waren bewusst auf vier Monate beschränkt. Sie berücksichtigen weder den Einfluss der Witterung noch den der voranschreitenden Impfkampagne. Durch die Öffnungsschritte ist die weitere Entwicklung zudem unberechenbarer geworden. Wir schaffen nun wieder Gelegenheiten für Superspreading. Vielleicht überstehen wir die nächsten Wochen ohne ein Hochschnellen der Infektionszahlen. Aber eine unglückliche Aneinanderreihung solcher Superspreading-Ereignisse könnte Fallzahlen auch wieder schnell ansteigen lassen.

Wir spielen mit dem Feuer und die Taskforce warnt erneut mit Szenarien, die uns so einfach nicht in den Kram passen. Aber vielleicht liegt sie wiederum nicht ganz falsch.

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Opa Köbi
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Written by Opa Köbi

Ich mach mir halt so meine Gedanken. Aktuell zu COVID-19 und den Reaktionen insbesondere in der Schweiz. https://twitter.com/OpaKoebi

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