Wenn B.1.1.7 doch nur 35% ansteckender ist, gilt dann Entwarnung? — Leider nein.
Als die Coronavirus-Mutation B.1.1.7 erstmals Aufmerksamkeit auf sich zog, wurde aufgrund erster Datenanalysen vermutet, dass sie 40–70% ansteckender ist als der Wildtyp, die “alte” Variante. Doch war bereits damals klar, dass weitere Daten benötigt würden, um das Ausmass des erhöhten Ansteckungspotentials besser zu verstehen.
Die Schweizer Wissenschafts-Taskforce ging in ihren Szenarien von Ende Dezember von einer neuen Variante aus, die 50% ansteckender ist. Diese Annahme habe ich für meine Modellrechnungen und Beispielszenarien übernommen.
Unterdessen gibt es bessere Daten über einen längeren Zeitraum. Virologe Christian Drosten erklärte im NDR-Corona-Podcast letzte Woche, dass er von einer um 35% erhöhten Ansteckungsfähigkeit der Mutante B.1.1.7 ausgeht. Einige Leser haben mich darauf hingewiesen und gefragt, was das denn nun bedeute. Gilt Entwarnung? — Leider nein.
Worüber wir froh sein können
Ist eine Virusvariante ansteckender, so werden härtere Massnahmen nötig, um dieselbe Reduktion der Fallzahlen zu erreichen. Wenn wir den R-Wert, die Anzahl der Kontakte, die in Infizierter im Schnitt ansteckt, auf 0.8 senken können, so halbieren sich Fallzahlen in etwa alle zwei Wochen.
Mit denselben Massnahmen würde der R-Wert einer deutlich ansteckenderen Variante nicht unter 1.0 gesenkt. Neuansteckungen würden also zunehmen anstatt abzunehmen. Wäre die neue Variante 35% ansteckender, so ist für sie ein R-Wert von 1.08 zu erwarten. Bei einer 50% ansteckenderen Variante gar einer von 1.2.
Zusätzliche, strengere Massnahmen wären nötig, um den R-Wert der neuen Varianten unter 1.0 zu bringen, damit Fallzahlen sinken. Um wiederum eine Halbierung der Fallzahlen alle zwei Wochen zu erreichen, müssten Kontakte noch stärker eingeschränkt werden. Bei einer 50% ansteckenderen Variante in grösserem Ausmass als bei einer 35% ansteckenderen Variante.
Ist die Ansteckungsfähigkeit der neuen Variante also weniger stark erhöht als erst angenommen, so bedeutet dies, dass weniger strenge Massnahmen ausreichen werden, um sie unter Kontrolle zu bringen.
Das bedeutet aber auf keinen Fall, dass wir zum aktuellen Zeitpunkt Massnahmen lockern können. Es gelingt uns nämlich nicht einmal, die Fallzahlen der alten Variante alle zwei Wochen zu halbieren.
Was uns weiterhin Sorge bereiten sollte
Auch eine 35% ansteckendere Variante führt schnell zu deutlich stärkerem Anstieg der Fallzahlen als die ursprüngliche Variante. Nimmt man dieselben Annahmen aus meinen illustrativen Modellrechnungen, aber geht von einer bloss 35% ansteckenderen Variante aus, so ergibt sich folgender Vergleich:
Wir sehen weiterhin einen sehr starken Anstieg der Fallzahlen bei den neuen Varianten — nur findet er bei der bloss 35% ansteckenderen Variante ein paar Tage später und etwas langsamer statt. Wir haben aber weiterhin die beschriebenen “Zinseszins-Effekte”.
Diese aktualisierten Erkenntnisse zu B.1.1.7 ändern zudem nichts an den tatsächlichen Fallzahlen, die wir beobachten. Wie Taskforce-Leiter Martin Ackermann an der gestrigen Pressekonferenz erklärte, geht die Taskforce davon aus, dass sich die Zahl der Fälle von B.1.1.7 in der Schweiz aktuell jede Woche verdoppelt. Diesen Zahlen liegen nicht theoretische Modellrechnungen zugrunde, sondern sequenzierte Virusgenome von positiv getesteten Menschen.
Und diese neuen Erkenntnisse ändern auch nichts an den Entwicklungen, die wir in Grossbritannien, Irland und Portugal beobachten können.
Kein Patient auf der Intensivstation, weder in diesen Ländern noch bei uns in der Schweiz, erfährt von diesen herunterkorrigierten Schätzwerten und sagt sich “Hätte ich das gewusst, müsste ich gar nicht hier sein.”. Es ändert sich nichts an der Zahl der tatsächlichen Neuansteckungen, der Zahl der Hospitalisierten, der Zahl der Toten und der Zahl der Überlebenden, die noch lange mit den Folgen von COVID-19 zu kämpfen haben werden.
Doch diese neue Einschätzung sollte uns trotzdem Hoffnung machen. Sie bedeutet, dass es etwas leichter ist, die neue Variante zu bändigen, als erst befürchtet. Damit sollten wir so schnell wie möglich beginnen. Das erfordert härtere Massnahmen. Präsenzunterricht an Schulen können wir uns vermutlich nicht mehr leisten. Es häufen sich Berichte von Eltern, die im Home Office waren, ausschliesslich Kontakt hatten zu ihren schulpflichtigen Kindern und nun positiv getestet wurden.
Je länger wir zuwarten, desto stärker verbreitet sich B.1.1.7 und desto schwieriger wird es werden, diese Variante unter Kontrolle zu bringen. Und desto länger werden zukünftige Lockdowns anhalten müssen.
Wie es nun weitergeht
Wenn der R-Wert (der alten Variante) wie aktuell bei etwa 0.9 liegt, so können wir zwar die Fälle der ursprünglichen Variante senken, aber die Fälle der neuen Variante B.1.1.7 wachsen weiterhin an.
Gehen wir heute von etwa 2’000 Fällen aus und nehmen wie die Taskforce an, dass 10% davon die neue Variante sind, so ergibt sich folgende Entwicklung:
Ohne strengere Massnahmen werden wir eine dritte Welle so nicht verhindern können.
Was, wenn es uns gelingt, R auf 0.74 zu senken? In diesem Szenario würden die Fälle der neuen Variante konstant bleiben und die der alten Variante schneller abfallen:
Herr Mathys vom BAG erklärte gestern an der Pressekonferenz, dass wir so schnell wie möglich tägliche Fallzahlen auf 300 senken sollten, was grob einer 14-Tage-Inzidenz pro 100’000 von 60 entspreche.
In diesem Szenario würden wir Mitte März unter die 300 täglichen Fälle kommen.
Können wir den R-Wert noch weiter senken auf 0.7, so reduzieren wir nicht nur die Fallzahlen der alten Variante, sondern auch die der neuen (letztere jedoch deutlich langsamer).
Das Ziel der 300 Fälle pro Tag würden wir Anfang März erreichen.
Anfang März scheint weit weg. Geht es noch schneller? Ja, wenn wir wirklich alles tun, um Kontakte zu vermeiden, sollte eine Reduktion von R auf 0.6 möglich sein. Die Entwicklung wäre dann folgendermassen:
Das Ziel der 300 Fälle pro Tag würden wir bereits Mitte Februar erreichen.
Wenn wir bis dann unsere Hausaufgaben gemacht haben, um Fälle längerfristig tief halten zu können, kann das normale Leben fast vollständig wieder zurückkehren.
Das könnten wir haben Mitte Februar. Wenn wir also im März noch über Lockdown-Verlängerungen sprechen, ist etwas sehr schief gelaufen.