Was geschieht, wenn wir nun alles öffnen?

Opa Köbi
9 min readFeb 22, 2021

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Sind wilde Clubnächte bald wieder möglich? (Tomas Simkus / Dreamstime.com)

Etliche fordern schon längstens, dass wir auf die meisten Corona-Massnahmen verzichten. Allen voran die SVP, der alle Massnahmen bis auf Grenzkontrollen ein Dorn im Auge zu sein scheinen. Nun haben sich auch Politiker von FDP und Mitte zu einer Koalition dazugesellt, die mit einer dringlichen Gesetzesänderung Restaurants, Fitnesscenter sowie sämtliche Freizeit-, Kultur- und Unterhaltungseinrichtungen so rasch wie möglich wieder vollständig öffnen will. Eine Mehrheit der Gesundheitskommission des Nationalrates stimmte letzte Woche einem entsprechenden Antrag zu.

Findet das Anliegen auch im Gesamtparlament Zustimmung, so könnten die betroffenen Betriebe bereits am 22. März wieder öffnen. Dies soll unabhängig von der epidemiologischen Lage geschehen. Mit der Gesetzesänderung wären dann zudem dem Bundesrat zu gewissem Grad die Hände gebunden, bei steigenden Fallzahlen wieder strengere Massnahmen zu beschliessen.

Keine der Verfechter einer schnellen Öffnung scheinen zu erklären, welche Auswirkungen sie erwarten. Sie nennen typischerweise die gesunkenen Gesamtfallzahlen sowie die tiefe Auslastung der Intensivstationen als Faktoren, die Lockerungen erlauben. Und sie behaupten, seien die Alten geimpft, so könne man für die Jüngeren alles sorglos öffnen.

Lukas Engelberger, Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektorenkonferenz, weckte bereits im “Club” vom 5. Januar Hoffnungen, wir würden “für alle liberalisieren” können, sobald die Risikogruppen geimpft seien, “weil dann nicht mehr viele Personen mit einem hohen Risiko rumlaufen”. Die Bündner Kantonsärztin Marina Jamnicki nickte verständnisvoll. Und fügte hinzu “Wenn ein 20-Jähriger sich nicht impfen lassen kann, tant pis.”.

Wie viele andere lassen auch Engelberger und Jamnicki einige entscheidende Punkte ausser Acht. Erstens sind auch jüngere Menschen von schweren Verläufen betroffen. Ja, deutlich weniger häufig als die älteren Generationen. Zweitens leiden zahlreiche junge Menschen auch Monate nach einer überstandenen Coronavirus-Infektion noch an Langzeitfolgen. Drittens wird eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus unsere Spitäler erneut überlasten, worunter alle leiden, die auf eine Spitalbehandlung angewiesen sind. Und viertens ist auch die Impfung von Personen wichtig, die vermutlich nicht stark erkranken werden. Können sie das Virus nicht mehr weitergeben, so werden damit auch andere geschützt.

Machen wir also mal die Überlegungen, welche die Öffnungsturbos aus Bequemlichkeit weglassen.

Wie viele junge Menschen werden im Spital landen?

Wir können einige einfache Rechnungen machen um abzuschätzen, wie viele junge Menschen eine Spitalbehandlung benötigen würden, wenn wir dem Virus freien Lauf lassen.

Wir kennen die Statistiken vom BAG zu Hospitalisationen nach Altersgruppe. Und wir wissen aus diversen Studien, dass der Bevölkerungsanteil, der bereits eine Infektion durchgemacht hat, im Schnitt unter 20% liegt. Gehen wir also grosszügig von 20% bereits Immunen aus und nehmen weiter an, dass die sich gleichmässig auf alle Altersgruppen verteilen, so ergibt sich folgendes Bild:

Anzahl Hospitalisierungen nach Altersgruppe, bisherige Werte und Erwartungen für die Zukunft.

Die Anzahl positiver Tests pro Altersgruppe berücksichtigen wir hier gar nicht, da diese Zahlen durch diverse Faktoren verfälscht sind. Die Dunkelziffer ist unterschiedlich hoch je nach Altersgruppe, weil sie verschieden schwere Verläufe haben und auch die Teststrategien abweichen.

Sollten vom Rest der Bevölkerung auch alle angesteckt werden, so wäre mit über 94'000 weiteren Hospitalisationen zu rechnen — viermal mehr als bisher, weil viermal mehr Menschen infiziert würden. Wir machen hier auch die Annahme, dass die neuen Varianten nicht zu schwereren Verläufen und höheren Hospitalisationsraten führen. Das ist eine optimistische Annahme.

Die Tabelle hat neben all den Unsicherheiten bei den Annahmen zwei weitere bedeutende Unzulänglichkeiten. Erstens ignoriert sie den Effekt von Impfungen. Und zweitens ist es unwahrscheinlich, dass auch wirklich alle angesteckt werden. Aufgrund von Herdenimmunitätseffekten wird es zunehmend schwierig werden für das Virus, weitere Opfer zu finden.

Korrigieren wir also zuerst den Einfluss von Impfungen. Gehen wir davon aus, dass von den über 70-Jährigen 80% geimpft wurden und diese Impfungen zu 100% wirken, um Krankheit zu verhindern. Beides wiederum optimistische Annahmen. Damit ergänzen wir die Tabelle wie folgt:

Anzahl Hospitalisierungen nach Altersgruppe, bisherige Werte und Erwartungen für die Zukunft, inklusive Impfeffekten bei den über 70-Jährigen.

Dank der Impfungen der über 70-Jährigen sehen wir nun 45'000 weniger Spitaleintritte. Das ist erfreulich. Trotzdem werden weiterhin fast 50'000 Menschen eine Spitalbehandlung benötigen. Darunter mehr als 10'000 unter 50 und über 1'000 Kinder.

Schauen wir uns als Nächstes die Geschehnisse über Zeit genauer an. Das hilft uns auch abzuschätzen, wie viele Spitalbetten wir benötigen werden.

Wie viele Spitalbetten werden wir benötigen?

Verzichten wir auf sämtliche Massnahmen und erlauben dem Virus eine ungehinderte Ausbreitung, so werden wir schnell wieder Tausende oder gar Zigtausende Fälle pro Tag sehen. Wie schnell die Fälle ansteigen, hängt von der Basisreproduktionszahl R0 des Virus ab. Diese gibt an, wie viele Personen ein Infizierter im Schnitt ansteckt, wenn noch niemand immun ist (durch frühere Infektion oder Impfung) und keine Massnahmen bestehen.

Für SARS-CoV-2 (die ursprüngliche Variante) wird R0 auf 2–3 geschätzt. Wir nehmen für eine erste Modellrechnung also mal ein R0 von 2.5 an. Und wir berücksichtigen die 20%, die bereits früher angesteckt wurden und den effektiven R-Wert damit senken. Zudem nehmen wir weiterhin an, dass 80% der über 70-Jährigen geimpft sind und damit ebenfalls den R-Wert senken. Weiter gehen wir davon aus, dass alle in gleichem Masse zum Infektionsgeschehen beitragen, was nicht der Realität entspricht.

Lassen wir dem Virus tatsächlich freien Lauf und verzichten auf weitere Interventionen (wie dies einige Politiker vorzuschlagen scheinen) und passt die Bevölkerung auch nicht auf eigene Faust ihr Verhalten an, so würden sich die täglichen Fallzahlen folgendermassen entwickeln, ab dem Tag an dem Öffnungsschritte ihre Wirkung zu entfalten beginnen (also etwa eine Woche nach Änderung der Regeln):

Entwicklung der täglichen Fälle (auch der nie getesteten), falls wir dem Virus freien Lauf lassen und von R0=2.5 ausgehen.

Wir gingen hier von ursprünglich 1'000 täglichen Fällen aus. Und rechnen in diesem Modell mit allen Fällen, nicht nur den mit Tests bestätigten. Das ist wichtig, da auch symptomfreie Infizierte ohne Test später nicht mehr angesteckt werden können. Die Dunkelziffer wird hier also sichtbar gemacht.

Insgesamt würden so 6.2 Millionen Menschen in der Schweiz irgendwann mit dem Coronavirus infiziert. Fast 30% würden also verschont, inklusive der knappen Million der Geimpften über 70.

Anzahl der bisher Infizierten über die Zeit. Mit zunehmender Immunität würde sie ein Plateau erreichen.

Was würde in den Spitälern geschehen? Für diese Abschätzung gehen wir davon aus, dass ein hospitalisierter Corona-Patient im Schnitt zehn Tage im Spital wird bleiben müssen. Zudem lassen wir sämtliche Zeitverzögerungen der Einfachheit halber weg. Ein Prozentsatz der Fälle entsprechend der Erfahrungswerte nach Altersgruppen aus der Tabelle oben landet also sofort im Spital und verbringt dann zehn Tage dort. Und jeder belegt über diese Zeit eines der verfügbaren Betten. Die Patienten, die anfänglich schon im Spital sind, ignorieren wir ebenfalls. Die wären nach spätestens zehn Tagen sowieso nicht mehr relevant für die Bettenbelegung.

Anzahl benötigter Spitalbetten über Zeit in einem Szenario, welches dem Virus freien Lauf lässt und von R0=2.5 ausgeht.

Wir würden am Höhepunkt über 10'000 Spitalbetten benötigen. Können wir diese (mit entsprechendem Personal und Geräten) nicht anbieten, so werden auch jüngere Menschen sterben, die sonst eine Infektion dank medizinischer Behandlung überlebt hätten. Wir erinnern uns, dass in der Schweiz in etwa 1'000 Betten auf Intensivstationen existieren.

In so einem Szenario werden nach eineinhalb Monaten Tausende Menschen unter 60 Spitalbehandlung benötigen. Darunter sind Familienmütter und Familienväter. Einige von ihnen werden nie zu ihren Familien zurückkehren. Häufen sich derartige Fälle und werden diese Schicksale in den Medien aufgegriffen, so werden sich viele den Restaurantbesuch zweimal überlegen — selbst wenn alles geöffnet ist. Ob es dann noch Entschädigungen gibt, wenn doch keine Restriktionen bestehen, ist fraglich.

Schränken sich die Menschen freiwillig ein, so wird auch die Virusverbreitung wieder verlangsamt. Vermutlich aber nicht genug, um eine ausreichende Senkung der Fallzahlen zu erzielen. Und so würde die Leidenszeit für Gastro- und Kulturbetriebe noch mehr in die Länge gezogen.

Im Modell sind wir bisher von einem R0 von 2.5 ausgegangen. Dieser Wert könnte aber auch tiefer oder höher liegen. Hier müssen wir nun auch beachten, dass die aktuell dominante neue Variante B.1.1.7 deutlich ansteckender ist. Ihr R0-Wert wird daher höher sein als die bisher angenommenen 2–3. Wie würde sich die benötigte Anzahl Spitalbetten verändern bei unterschiedlichen Annahmen zu R0?

Um nicht für jedes mögliche R0 eine Kurve wie die violette oben anschauen zu müssen, lassen wir das den Computer machen. Und uns nur mitteilen, welcher Höchstwert jeweils erreicht wird. Bei R0=2.5 waren das die etwa 10'000, die wir in der oberen Kurve sehen. Bei anderen Werten von R0 werden folgende Höchststände erreicht:

Maximal benötigte Anzahl Spitalbetten in Abhängigkeit von R0, in einem Szenario, in dem lediglich 80% der über 70-Jährigen geimpft sind, sonst niemand.

Aber wir impfen doch auch die Jüngeren!

Auch Menschen unter 70 werden sich bald impfen lassen können. Was wäre der Einfluss dieser Impfungen?

Nehmen wir an, dass zum Zeitpunkt der Öffnung weiterhin nur 80% der über 70-Jährigen geimpft sind. Doch jeden Tag kommen weitere jüngere Geimpfte dazu. Wir nehmen hier der Einfachheit halber an, dass über alle Altersstufen hinweg gleich häufig geimpft wird. Abhängig von der gewählten Priorisierungslogik wird das nicht der Fall sein (wir schauen uns später noch eine Alternative an). Das Modell ist in dieser Hinsicht also zu pessimistisch. Werden Menschen mit höherem Hospitalisierungsrisiko früher geimpft, so wird die Anzahl der benötigten Spitalbetten tiefer ausfallen.

Gehen wir von 20'000 Impfungen pro Tag aus, so würde sich die Anzahl der maximal benötigten Spitalbetten folgendermassen verhalten:

Maximal benötigte Anzahl Spitalbetten in Abhängigkeit von R0, in einem Szenario mit 20'000 Impfungen pro Tag für Menschen unter 70 (von den über 70-Jährigen sind 80% von Anfang weg geimpft).

Auch hier lassen wir wieder einige Komplexitäten weg. So gehen wir davon aus, dass jede Impfung sofort zu 100% wirkt. In Realität dauert es einige Tage, bis ein erster Impfschutz besteht, der dann durch die zweite Dosis einige Wochen später nochmal erhöht wird. Und die Impfungen wirken leider nicht zu 100%. Bei der Impfwirkung ist das Modell also zu optimistisch.

Wie wäre es mit 40'000 Impfungen pro Tag?

Maximal benötigte Anzahl Spitalbetten in Abhängigkeit von R0, in einem Szenario mit 40'000 Impfungen pro Tag für Menschen unter 70 (von den über 70-Jährigen sind 80% von Anfang weg geimpft).

Und mit 60'000 Impfungen pro Tag?

Maximal benötigte Anzahl Spitalbetten in Abhängigkeit von R0, in einem Szenario mit 60'000 Impfungen pro Tag für Menschen unter 70 (von den über 70-Jährigen sind 80% von Anfang weg geimpft).

Wenn wir schneller impfen können, kommen wir gut gegen ein Virus mit tieferen Werten von R0 an. Ist R0 aber am höheren Ende des gezeigten Spektrums, so rast uns das Virus davon und wir kommen nicht nach.

Nun führen wir auch noch Impfgruppen ein. Die über 70-Jährigen sind schon durch. Als nächstes kommen nun die im Alter 60–69 dran. Wir impfen nur diese Gruppe, bis 80% darin geimpft sind. Dann machen wir weiter mit denen im Alter von 50–59. Wiederum, bis 80% in dieser Gruppe geimpft sind. Dann geht’s so weiter, bis wir Kinder erreichen. Die 80% sind wiederum eine optimistische Annahme. Einige können sich nicht impfen lassen und noch mehr verweigern die Impfung. 80% zu erreichen in jeder Altersgruppe wäre ein verblüffender Erfolg.

Maximal benötigte Anzahl Spitalbetten in Abhängigkeit von R0, in einem Szenario mit 60'000 Impfungen pro Tag für Menschen unter 70 priorisiert nach Altersgruppen (von den über 70-Jährigen sind 80% von Anfang weg geimpft).

Wir können die benötigten Spitalbetten so nochmal senken. Doch wir würden die jüngeren Altersgruppen weiterhin Langzeitschäden aussetzen, die auch bei vielen auftreten können, die nie ein Spital besuchen müssen.

Diese Szenarien machen diverse optimistische Annahmen. In Realität wird’s noch schwieriger werden, weil wir nicht so schnell so viele werden impfen können. Und weil die neuen Varianten zu mehr Hospitalisierungen führen könnten.

Wollen wir eine Überlastung der Spitäler und unnötige Tote und Langzeitgeschädigte verhindern, so müssen wir also Gas geben beim Impfen. Und Massnahmen beibehalten, um den R-Wert tief zu halten. Idealerweise würden wir Fallzahlen schnell senken mit strengeren Massnahmen und sie dann mit weniger einschneidenden längerfristig tief halten. So könnten wir alle, die das möchten, impfen, ohne sie der Gefahr einer Infektion auszusetzen.

Behalten wir Massnahmen wie Masken im öffentlichen Raum bei, so hat dies denselben Effekt wie ein tieferer Wert R0. Je mehr Massnahmen wir beibehalten, desto weiter links auf den Kurven werden wir uns bewegen und desto weniger Spitalbetten werden wir benötigen.

Mit tiefen Fallzahlen und einer steigenden Anzahl Geimpfter kann dann auch das normale Leben zurückkehren. Aber vorsichtig und schrittweise. Nicht mit einem grossen Knall.

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Opa Köbi

Ich mach mir halt so meine Gedanken. Aktuell zu COVID-19 und den Reaktionen insbesondere in der Schweiz. https://twitter.com/OpaKoebi