Niemand will monatelange Lockdowns. Weshalb haben wir sie nun trotzdem?

Opa Köbi
16 min readJan 25, 2021

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Corona-Poster des BAG: Wie viele Farben haben wir noch vor uns?

Seit Anfang November haben wir in der Schweiz Corona-Lockdowns* verschiedenen Grades und unterschiedlichen geographischen Umfangs. Ständig ändert sich, was man noch tun darf und was nicht mehr. Und es wird wohl mindestens bis Ende Februar so weitergehen. Eventuell noch länger.

Das wären dann schon mal ganze vier Monate mit Lockdowns. Wollte das irgendwer? Nein. Ich kann mich an niemanden erinnern, der gefordert hätte, wir sollten vier bis sechs Monate lang von einem Lockdown in einen leicht anderen Lockdown wechseln.

Weshalb geschieht das also trotzdem?

Zahlreiche Länder beweisen, dass es auch anders geht. Dass Fallzahlen konsequent gesenkt und dann tief gehalten werden können. Und dass dieser Ansatz ein fast komplett normales Leben ermöglicht. Unter diesen Ländern sind Inseln, aber nicht alle sind Inseln. Einige sind auf der Nordhalbkugel, andere auf der Südhalbkugel. Sie haben unterschiedliche politische Systeme. Unterschiedliche Kombinationen von Massnahmen. Aber allen ist es irgendwie gelungen, COVID-19 unter Kontrolle zu halten. Neuseeland, Australien, Taiwan, Südkorea, Singapur, Thailand, Vietnam, Malaysia, die Mongolei. Europa war nicht ganz so erfolgreich, aber einige Länder haben vergleichsweise sehr tiefe Zahlen: Island, Norwegen, Finnland.

Immer wieder höre ich, das ginge bei uns eben nicht, die Schweiz unterscheide sich zu sehr von diesen erfolgreichen Ländern. Wir sind keine Insel. Höhere Bevölkerungsdichte. Andere Wertesysteme. Aber das sind alles Ausreden. Und zwar erwiesenermassen. Den Beweis, dass wir Fallzahlen deutlich senken können, haben wir nämlich bereits erbracht. Im Frühling 2020. Auf weit unter 100 Fälle pro Tag. Innerhalb weniger Wochen. Das könnten wir auch wieder tun.

Je schneller wir beginnen und je härter die Massnahmen sind, desto kürzer kann der Lockdown sein. Je länger wir warten, desto stärker verbreiten sich die neuen Varianten, deren Eindämmung noch härtere Massnahmen verlangt, da sie erheblich ansteckender sind. Und selbst mit noch strengeren Massnahmen kann es dann deutlich länger dauern, Fallzahlen zu senken. Das Ende des Lockdowns verzögert sich also weiter.

Niemand will das. Trotzdem sind wir jetzt in dieser Situation. Wir haben mehrere Chancen verpasst, das Virus unter Kontrolle zu bringen mit weniger einschneidenden oder weniger lang anhaltenden Massnahmen als den aktuellen (und den weitergehenden, die in den nächsten Wochen wohl noch nötig werden).

Woran liegt das? Weshalb tun wir jetzt, was niemand will? Eine Suche nach Erklärungen.

Die Beobachtungen, die folgen, betreffen selbstverständlich nicht alle. Glücklicherweise haben auch viele den Ernst der Lage erkannt und verhalten sich entsprechend. Doch leider gibt es noch genug, bei denen dies nicht der Fall ist — und viele von ihnen sind Entscheidungsträger.

Ernst der Lage nicht erkannt

Die Schweiz war zu gewissem Grad schon immer befreit von den Sorgen der Welt. Wir geniessen (und erwarten) eine Sonderstellung. Die Probleme anderer Länder sind für die hochentwickelte Schweiz nicht relevant. Und so glaubten wir doch tatsächlich, dass auch ein Virus unsere Sonderstellung respektieren würde. “Wir können Corona.” Wir brauchen nicht harte Regeln wie andere Länder, wir sind kultivierter. Zustände wie in Italien oder Spanien wird’s bei uns ja bestimmt nicht geben, diese Südländer sind schliesslich undiszipliniert und faul. Eine gewisse Arroganz haben wir hier auch an den Tag gelegt.

Die Schweiz scheint auch nach bald einem Jahr globaler Pandemie noch nicht erkannt zu haben, dass es sich um eine Jahrhundertkrise handelt, der sie sich nicht entziehen kann. Wir können nicht einfach neutral sein und uns raushalten. Diese Grundannahme, dass der Schweiz eine Ausnahmeregelung zusteht, lähmt auch unsere Reaktionen; wir nehmen das alles nicht so ernst. Aufwand und Kosten scheinen schnell übertrieben.

Leider zeigt sich einmal mehr: wir sind eine unglaublich verwöhnte Gesellschaft. Die Art von Entbehrungen, die Generationen vor uns erfahren haben, sind uns völlig fremd. Und so leiden wir auf sehr hohem Niveau. Die kleinsten Einschränkungen sind schon unaushaltbar. “Was, keine frischen Gipfeli vom Beck am Sonntag?! Diktatur!”

Wir wollen auf nichts verzichten, aber auch wirklich gar nichts. Restaurantbesuche müssen sein. Skifahren. Reisen ins Ausland. Der Schulbetrieb darf nicht angetastet werden. Wir scheinen noch nicht realisiert zu haben, dass nicht einfach alles weitergehen kann wie üblich. Und dass wir auch keinen Anspruch darauf haben, dass alles weitergeht wie gewohnt.

Es scheint uns unmöglich, Abwägungen zu treffen. Vielleicht ist es nicht so schlimm, ein paar Wochen auf Gipfeli am Sonntag zu verzichten oder sie halt selbst in den Ofen zu schieben, wenn dafür Menschenleben gerettet werden können? Sogar wer zu keinem altruistischen Gedanken fähig ist, sollte aus purem Egoismus einsehen, dass ein kurzer Verzicht uns schneller wieder mehr Freiheiten erlaubt.

Wenn wir aus monatelangen Lockdowns rauskommen wollen, müssen wir uns eingestehen, dass der Schweiz keine Sonderbehandlung zusteht. Die Herausforderung ist für uns dieselbe wie für andere Länder. Es ist eine Jahrhundertkrise, der wir entsprechend begegnen sollten.

Gnadenloser Individualismus

Das Mantra der Eigenverantwortung hören wir nun schon seit Monaten, typischerweise von Wirtschaftsverbänden. Sie vermitteln uns die Illusion, jeder könne die Pandemie ganz für sich alleine lösen. Und werfen andern vor, Bürger zu entmündigen oder gar zu unterjochen, wenn wir uns auf Regeln für alle einigen möchten.

Eigenverantwortung funktioniert dort, wo das eigene Handeln Konsequenzen nur für einen selbst mit sich bringt. Wer Risikosportarten betreibt, gefährdet sich damit meist nur selbst. Da kann man auf Eigenverantwortung pochen und sich gegen Regulierung aussprechen. Wer sich ungesund ernährt, schadet sich damit ebenfalls vor allem selbst. Auch da, gerne Eigenverantwortung. (Wir lassen den Einfluss auf steigende Gesundheitskosten und andere Faktoren, die dann eben doch auch andere betreffen, hier der Einfachheit halber mal weg.)

Aber dann gibt es andere Bereiche, in denen die Konsequenzen des Handelns des einen vor allem von anderen gespürt werden. Wie laut der Rotzlöffel in der Wohnung 3b mitten in der Nacht seine Musik aufdreht, ist eben nicht eine Frage der Eigenverantwortung. Ob man sich an die Verkehrsregeln hält oder nicht, ist auch nicht eine Frage der Eigenverantwortung. Es wäre absurd, eine Abschaffung aller Verkehrsregeln zu fordern, weil diese persönliche Freiheiten zu sehr einschränkten, und stattdessen an die Eigenverantwortung zu appellieren. Ein Kind, das von einem Raser angefahren wird, hat nicht mangelnde Eigenverantwortung gezeigt.

Der Ruf nach Eigenverantwortung ist häufig eine Verweigerung der Solidarität. Man will selbst mehr Freiheiten und die Verantwortung anderen überlassen. Auch die Konsequenzen des eigenen Handelns betreffen vor allem andere. Und dieser gnadenlose Individualismus soll schliesslich auch noch als Tugend verkauft werden.

Weite Teile Asiens schütteln verständnislos den Kopf ob des mangelnden sozialen Zusammenhalts im Westen. Individualismus wird dort nicht gefeiert, sondern eher als verantwortungslose Charakterschwäche gesehen. Das Gemeinwohl hat einen viel höheren Stellenwert, häufiger leben drei Generationen im selben Haushalt, und ältere Mitglieder der Gesellschaft geniessen auch mehr Respekt als bei uns. Ein Teenager, der nicht auf seine Partys zu verzichten bereit ist, da er ja selbst kaum gesundheitliche Schäden vom Virus zu befürchten hat, würde dort vermutlich von mehreren Generationen deutlich etwas zu hören bekommen. Bei uns ist es wahrscheinlicher, dass die Eltern Fahrdienste hin und zurück anbieten.

Wenn wir aus monatelangen Lockdowns rauskommen wollen, müssen wir verstehen, dass wir die Pandemie nur gemeinsam bewältigen können. Niemand kann sie auf eigene Faust lösen. Wer nicht am selben Strang mitzieht, trägt bei zu unnötigen Verlängerungen von Massnahmen, unter denen nicht nur er selbst, sondern auch alle anderen leiden. Damit alle mitmachen können, müssen wir ihnen die Zusammenhänge klar erklären, eine Perspektive aufzeigen, und stark Betroffene angemessen entschädigen und unterstützen.

Gespaltene Beziehung zur Wissenschaft

Wir vertrauen der Wissenschaft tagtäglich, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Jeder, der ein Fahrzeug fährt oder in ein Flugzeug einsteigt, vertraut, dass es ihn sicher an sein Ziel bringen wird. Wir benutzen Computer, Tablets, Smartphones, das Internet — alle nur möglich dank zahlreicher bahnbrechender Entdeckungen der Wissenschaft — und hinterfragen dabei überhaupt gar nichts. Wir stellen Lebensmittel in den Kühlschrank und in die Mikrowelle und die bleiben zuverlässig kalt oder werden zuverlässig warm. Wissenschaft funktioniert, jeden Tag.

Aber das sind ja auch alles angenehme Dinge, die uns das Leben erleichtern. Wehe, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse für uns unangenehme Konsequenzen bedeuten. Dann werden wir zu Skeptikern. Obwohl die Erkenntnisse mit genau denselben Prozessen und Regeln der Wissenschaft entstanden sind, die uns auch den Wohlstand ermöglichen.

Und so überschreiben plötzlich persönliche Befindlichkeiten Ergebnisse der Wissenschaft. “Masketragen finde ich unangenehm. Wenn Masken aber helfen würden, die Virusverbreitung zu verhindern, dann müsste ich sie ja tragen. Also müssen Masken nutzlos sein oder das Virus gar nicht existieren.”, scheinen einige zu denken. Oder “Wenn Schulen signifikant zur Verbreitung des Virus beitragen würden, dann müssten wir ja auf Präsenzunterricht verzichten. Aber ich möchte nicht, dass meine Kinder zuhause sind, so kann ich ja nicht arbeiten. Also können Schulen bei der Virusverbreitung keine Rolle spielen.” — “motivated reasoning” nennt man das.

Wissenschaftliche Erkenntnisse, die global schon seit Monaten bekannt sind, finden den Weg in die Schweiz nur langsam. Dazu gehören die Wirksamkeit von Masken, die Übertragung durch Aerosole, Art und Ausmass von Langzeitfolgen einer COVID-Erkrankung und die Rolle von Kindern und Schulen. Das liegt auch daran, dass bei uns kein vertiefter öffentlicher Wissenschaftsdialog stattfindet. Unsere Diskussionen bleiben oberflächlich und Fehlinformationen und Pauschalaussagen halten sich sehr lange. Es wird mehr über Befindlichkeiten und Interessen diskutiert als über wissenschaftliche Fakten und Zusammenhänge.

Das ist nicht überall so. In Deutschland gibt es zum Beispiel den NDR-Corona-Podcast, in welchem die Virologen Sandra Ciesek und Christian Drosten regelmässig neuste Forschungsergebnisse für Laien verständlich erklären. Oder Mai Thi Nguyen-Kim, die in ihren YouTube-Videos Wissenschaftsthemen verständlich und humorvoll vermittelt. Und Österreich hat Molekularbiologe Martin Moder, der in seiner Küche mit einfachsten Mitteln ein Coronavirus-Modell zusammenbastelt und anhand dessen die Wirkung von mRNA-Impfungen erklärt. Solche Formate fehlen uns. In der Schweiz sind vor allem die vermeintlichen Experten laut und sichtbar, die Laien mit abstrakten Fachbegriffen überhäufen (“T-Zellen-Kreuzimmunität” usw.) und damit gewagte Aussagen begründen, die wissenschaftlich wenig fundiert sind. Das ist besonders gefährlich, wenn sie das Virus verharmlosen und ihre Zuhörerschaft sowie die Gesamtgesellschaft damit in Gefahr bringen.

Aber es sind nicht nur die vermeintlichen Experten mit ihren Doktoren- und Professorentiteln, die Blödsinn verbreiten. Auch Politiker und Journalisten werweissen ohne jede Fachkenntnis am TV und in den Zeitungen herum und behaupten, eigentlich wisse ja sowieso niemand, was genau zu tun sei. Dabei fehlt ihnen ein elementarstes Verständnis der Zusammenhänge. Und scheinbar auch jede Scham. Nach einer faktenfreien Fernsehdebatte sind Zuschauer noch verwirrter als zuvor. Politiker können ungeprüft behaupten, was sie wollen, und die Wissenschaft ist entweder gar nicht dabei oder wird in eine Ecke gestellt wie in der “Arena”. Hier scheitern leider auch unsere Journalisten und verpassen Chancen, wissenschaftliche Inhalte und Fragestellungen in verständlicher Form zu vermitteln.

Wenn wir aus monatelangen Lockdowns rauskommen wollen, muss sich die Politik (und auch die Bevölkerung) ernsthaft mit den Erkenntnissen der Wissenschaft auseinandersetzen. Und dies auch (oder gar insbesondere) dann, wenn sie für uns unangenehme Konsequenzen haben oder schwierige Entscheidungen verlangen. Wir können vor Fakten nicht fliehen, sie holen uns früher oder später ein.

Scheitern am Marshmallow

In einem bekannten Stanford-Experiment aus den Siebzigern wurde Kindern ein Marshmallow gegeben und ihnen gesagt, sie würden einen zweiten erhalten, falls sie mit dem Verzehr des ersten warteten, bis der Forscher zurückkehre. Dann verliess dieser den Raum für 15 Minuten. Sehr unterhaltsame Videos diverser Durchführungen solcher Experimente lassen sich leicht im Internet finden. Die Kinder ringen mit sich selbst und nutzen allerlei Strategien, um sich von der verlockenden Süssigkeit abzulenken.

Nachfolgende Studien zeigten, dass Kinder, die auf schnelle Befriedigung verzichten konnten, später tendenziell auch erfolgreicher waren im Leben und beispielsweise bessere Ergebnisse erzielten in standardisierten Studierfähigkeitstests.

Die Schweiz scheitert aktuell an einem Marshmallow-Test nach dem anderen. Wir sind nicht bereit, heutigen Verzicht zu akzeptieren, der späteren und umfangreicheren Verzicht verhindern könnte. Das war so im Sommer, als wir uns weigerten, vergleichsweise harmlose Massnahmen zu akzeptieren, um Fallzahlen tief zu halten. Und es war erneut so im Herbst, als wir uns gegen einen Lockdown entschieden. Wir befinden uns nun in einem längeren Lockdown, als im Herbst nötig gewesen wäre. Beim Thema des Fernunterrichts könnte sich nun ein ähnliches Muster wiederholen. Weil wir jetzt nicht bereit sind, Schulen kurzzeitig auf Fernunterricht umzustellen, könnten wir später gezwungen sein, für eine deutlich längere Periode auf Präsenzunterricht zu verzichten.

Wir verstehen nicht, was unsere tatsächlichen Optionen sind. Die Frage ist nicht, ob das Kind den Marshmallow essen will oder nicht. Natürlich würde es den Marshmallow lieber essen als ihn nicht zu essen. Die Frage ist, ob es lieber sofort einen einzigen Marshmallow geniesst oder später deren zwei. Und bei den Schulen ist die Frage nicht, ob wir Präsenzunterricht beibehalten oder nicht. Die Frage ist, ob wir jetzt für eine kurze Zeit auf Präsenzunterricht verzichten oder später für eine längere Zeit.

Ja, es besteht immer die Hoffnung, dass wir uns vielleicht durchschummeln können und Fernunterricht gar nie nötig wird. Aber wir gehen für diese Hoffnung ein grosses Risiko ein — und verlängern fast garantiert die Dauer des Lockdowns. Auch wer sich weniger um das Kindeswohl sorgt und mehr um die unabgelenkte Verfügbarkeit der Eltern für ihre Arbeitgeber, sollte eine kurze Unterbrechung des regulären Schulbetriebes einer längeren vorziehen.

Spätere Wiederholungen des Marshmallow-Experimentes über die vergangenen Jahrzehnte erlaubten ein differenzierteres Bild der Effekte. Nicht nur Wille und Durchhaltevermögen der Kinder spielten eine Rolle. So war beispielsweise auch entscheidend, wie sehr sie der Versprechung des zweiten Marshmallows trauten. Kinder, die es sich gewohnt waren, enttäuscht zu werden, verzehrten den Marshmallow lieber sofort, als zu riskieren, auch noch diesen ersten zu verlieren. Wer Zusagen nicht traut, nimmt sich so viel er kann, so schnell er kann.

Das geschieht auch bei Corona. Wenn Behörden immer wieder Endzeitpunkte von Massnahmen ankünden und diese dann nicht einhalten können, fehlt der Bevölkerung eine verlässliche Perspektive und sie nimmt Massnahmen weniger ernst. “Lieber schnell noch möglichst viel Ski fahren, wer weiss, wie lange das noch möglich sein wird.” Darauf weist auch eine Gruppe Deutscher Wissenschaftler hin, die statt fixen Zeitpunkten vorschlagen, die Dauer von Massnahmen von der Erreichung gemeinsamer Ziele abhängig zu machen.

Wenn wir aus monatelangen Lockdowns rauskommen wollen, müssen wir bereit sein, heute kleinere und kurzzeitigere Einschränkungen in Kauf zu nehmen, um später grössere und länger andauernde Einschränkungen zu vermeiden. Behörden müssen klare Perspektiven aufzeigen und nicht Versprechungen machen, die sie nicht einhalten können.

Unfähigkeit, von anderen zu lernen

Zahlreiche Länder haben das Coronavirus gebändigt, mit unterschiedlichen Kombinationen von Massnahmen. Und etliche sind gescheitert. Wir könnten von beiden Gruppen vieles lernen. Doch scheinen wir unwillig, weiter als bis zu den direkten Nachbarländern zu schauen. Und selbst dann dienen sie vor allem als Ausreden. “Aber Österreich!” Anderen geht’s auch nicht besser, also waren unsere Resultate unvermeidbar. Niemand ist schuld, die Aufgabe war schlicht unmöglich.

Hier steht uns unser Stolz im Weg. Wer erfolgreiche Strategien anderer Länder übernimmt oder sie für die eigenen Gegebenheiten anpasst, muss sich nicht schämen. Und Fehler zu vermeiden, die andere bereits gemacht haben, ist schlichtweg clever. Wer andere auf dem Eis ausrutschen sieht, sollte glauben, dass es glatt ist, und Vorsicht walten lassen. Leider muss die Schweiz immer erst selbst auf die Schnauze fallen. Bevor wir’s nicht selbst spüren, glauben wir nicht, dass was anderen widerfahren ist, auch uns treffen könnte.

Wenn wir aus monatelangen Lockdowns rauskommen wollen, müssen wir unseren Stolz etwas zurückstellen und bereit sein, von anderen zu lernen. Dazu gehört auch, eigene Fehler anzuerkennen und Lehren aus ihnen zu ziehen. Und uns einzugestehen, dass in der Schweiz keine besondere Naturgesetze gelten. Dem Virus ist unsere vermeintliche Sonderstellung schnuppe.

Unfähigkeit vorauszuschauen

Wir scheinen unfähig sein, uns vorzustellen, in welche Situation wir uns in ein paar Wochen befinden könnten. Viele Entwicklungen sind völlig absehbar. Letzten Sommer hatten wir Ende Juni etwa 60 Fälle pro Tag. Ende Juli 150. Ende August 300. Es ist nicht schwierig zu sehen, wo der Trend hingeht. Trotzdem wurden weitergehende Öffnungen diskutiert, inklusive erneuter Zulassung von Grossveranstaltungen. Was dachten unsere Bundesräte denn, was passieren würde? Hatten sie eine Erwartung? Hofften sie, dass das Virus sich von selbst verziehen würde?

Die SVP verlangt nun die Aufhebung aller Corona-Massnahmen. Damit wir morgen wieder in der Beiz essen können. Denkt sie noch weiter als ein paar Tage? Was erwartet sie, was über die nächsten Wochen geschehen würde? Ihre Forderungen enthalten keine Hinweise darauf, dass sie sich das überhaupt überlegt hat.

Die nachgewiesenen Fälle der ansteckenderen Variante B.1.1.7 steigen rasant an. Etliche Kinder sind betroffen und Tausende von Schülern und Eltern befinden sich bereits in Quarantäne. Wie soll das weitergehen? Wir sehen wieder eine ähnliche Entwicklung wie im letzten Sommer. Die Zahlen sind noch tief, aber das Wachstum ist exponentiell. Wir wissen, wo das hinführt, wenn wir nichts ändern. Länder um uns herum verzichten auf Präsenzunterricht an Schulen, aber nicht die Schweiz. Wir reagieren erst, wenn es schon zu spät ist.

Unser Bundesrat weigerte sich gar, sich mit Massnahmen im Falle gewisser Szenarien auseinanderzusetzen. Ein Ampelsystem wurde verworfen, weil es nicht genügend Flexibilität erlaube. Und als sich die Lage nicht wie gehofft verbesserte, wurden Vorschläge erst in eine Vernehmlassung mit den Kantonen geschickt. Das hätte man alles schon Wochen vorher machen können und damit weitere Verzögerungen vermeiden. Die Entwicklungen waren schliesslich nicht völlig unerahnbar; es war relativ klar, in welchem Rahmen sie sich bewegen würden.

Wenn wir aus monatelangen Lockdowns rauskommen wollen, müssen wir uns mit Zukunftsszenarien beschäftigen, die weiter schauen als ein paar Tage. Und dabei realistische Annahmen treffen basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Erfahrungen anderer Länder. Und wir müssen frühzeitig planen und uns vorbereiten, auch für Eventualitäten.

Rappenspalter-Ideologie

Selbst in einer Pandemie liegt uns das Geld immer noch sehr am Herzen. Auf keinen Fall zu viel Geld auszugeben, scheint für einige oberste Priorität zu geniessen. Und so schauen wir, dass im Optimalfall noch möglichst viel übrig ist in unserem Kässeli. “Lieber noch nicht in bessere Testinfrastruktur und Kontaktverfolgung investieren, vielleicht brauchen wir das ja nachher gar nicht.”, scheinen Entscheidungsträger in den Kantonen gedacht zu haben. “Wie geben wir möglichst wenig aus, wenn alles so gut wie möglich läuft?”. Aber das ist genau die falsche Frage während einer Notlage wie einer Epidemie.

Wir sollten Investitionen mehr als Versicherung sehen. Anstelle mit der Entwicklung einer Software für die Koordination von Impfterminen zuzuwarten, damit wir uns die Million Franken sparen können, falls das Virus auf wundersame Weise verschwindet und keine Impfungen benötigt werden, sollten wir diese Investition möglichst früh tätigen, damit wir bereit sind, sobald Impfungen verfügbar werden. Im dümmsten Fall haben wir die Million in den Sand gesetzt. Aber wäre dieser Fall wirklich so dumm? Wenn das Virus ohne Impfungen verschwindet, sollten wir uns alle glücklich schätzen. Viel dümmer wäre es, wenn das Virus in noch viel stärkeren Wellen mit Tausenden von Toten zurückkommt und unsere IT-Lösung noch nicht fertig ist, obwohl die Impfdosen schon bereitstehen… Und dies Milliarden an Zusatzkosten verursacht.

Denselben Fehler haben wir beim zögerlichen Einkauf von Impfdosen gemacht. Einige Hundert Millionen für Impfdosen sind viel billiger als die Milliarden an wirtschaftlichen Schäden.

Wenn wir aus monatelangen Lockdowns rauskommen wollen, müssen wir uns absichern für die schlechten Szenarien, nicht für die guten. Und vergleichsweise kleine Ausgaben nicht scheuen, wenn wir mit ihnen ein Vielfaches an Kosten verhindern können.

Langsame Prozesse und Inkompetenz

“Nume nöd jufle.” — In der Schweiz geht nichts schnell. Alles will wohlüberlegt sein. Sorgfältig mit allen abgestimmt. Konsens und Harmonie sind wichtig. Zu normalen Zeiten schafft dies Stabilität. Wir vermeiden das ständige Hinundher von Ländern mit Regierungsparteien und einer Opposition, die regelmässig ihre Rollen tauschen. Aber in einer Pandemie, bei der sich die Grösse des Problems alle zwei Wochen verdoppelt, ist Gemächlichkeit fehl am Platz.

Die Schweiz musste selten schnell auf komplexe Krisen reagieren. Sie scheint nicht realisiert zu haben, dass in einer derartigen Krise “business as usual” nicht funktioniert. Man muss schneller agieren, ambitionierter sein, Entscheidungen treffen, bevor alle Daten im letzten Detail vorliegen. Und vielleicht auch kreativer sein und ausserhalb üblicher Beschränkungen denken. Können beispielsweise Impfzeiten ausgedehnt werden über normale Bürozeiten hinaus? Israel beweist gerade, dass es möglich ist, mit der richtigen Organisation im Rekordtempo grosse Teile der Bevölkerung zu impfen. Bei uns können einige Kantone noch nicht mal sagen, wie viele Leute schon geimpft wurden.

Die Debakel beim Testen, der Kontaktverfolgung und beim Impfen enthüllen auch eine erschreckende Inkompetenz. Es scheinen noch Systeme und Prozesse im Einsatz zu sein, die Jahrzehnte alt sind. Im Frühling war diese Situation noch für alle neu und ein gewisses Verständnis für Startschwierigkeiten ist angebracht. Aber unterdessen, mehr als acht Monate später, hätten wir grössere Fortschritte machen sollen.

Und bei allem Respekt für die Souveränität der Kantone: Während einer Notsituation wie einer globalen Pandemie können wir es uns nicht leisten, jedes Problem 26-mal unabhängig voneinander zu lösen und ständig das Rad neu zu erfinden. Hier ist Koordination gefragt und es würde sich lohnen, kritische Infrastruktur mit dem Bund zu entwickeln. Aber der muss dann auch verlässlich liefern. Und externe Partner beiziehen, wenn ihm Kompetenzen fehlen.

Wenn wir aus monatelangen Lockdowns rauskommen wollen, müssen wir höhere Ansprüche stellen. Es braucht nun mehr als einfach Dienst nach Vorschrift. Wir müssen uns ehrgeizige Ziele setzen und diese auch konsequent verfolgen. Es lohnt sich weiterhin, grosszügig zu investieren in Testen, Kontaktverfolgung, Quarantänen, Impfen mit nationalen Ansätzen. Wir werden all diese Komponenten unserer COVID-Strategie noch viel länger benötigen, als wir uns das wünschen. Auch für zukünftige Epidemien, die früher oder später kommen werden.

Der gute Schweizer Kompromiss

Wir sind es uns gewohnt, gute Schweizer Kompromisse einzugehen. Extreme scheinen uns intuitiv falsch, gute Lösungen müssen irgendwo in der Mitte liegen. Wir wollen’s irgendwie allen recht machen. Also machen wir nichts richtig, sondern alles ein bisschen. Ein bisschen Testen. Ein bisschen Kontaktverfolgung. Ein bisschen Schliessen. Ein bisschen Impfen. Nur nicht übertreiben, ein Mittelweg muss es sein. Aber das funktioniert mit einem Virus nicht. Ein Virus ist nicht einfach ein weiterer Verhandlungspartner, dem man auch noch ein bisschen etwas geben muss, um ihn zufriedenzustellen.

Ein Mittelweg kombiniert nicht die Vorteile unterschiedlicher Extreme. Nein, er verwehrt uns die Vorteile der Extreme und vereint ihre Nachteile. Mit dem Mittelweg gelingt uns die schnelle Reduktion der Fallzahlen und ein Leben ohne Virus nicht, aber wir haben nicht nur viele Langzeit-Betroffene und Tote, sondern auch die hohen Kosten der Massnahmen.

Wenn wir aus monatelangen Lockdowns rauskommen wollen, müssen wir uns von “Wischiwaschi”-Mittelwegen verabschieden. Und sowohl eine Gesamtstrategie als auch einzelne Massnahmen konsequent umsetzen.

Fokus auf PR in der Politik

Leider scheinen einige unserer Politiker und Behörden mehr darum besorgt zu sein, sich selbst ins rechte Licht zu rücken, als die Herausforderungen unseres Landes zu meistern. Würden sie sich auf Letzteres konzentrieren, geschähe Ersteres von selbst ohne weitere Bemühungen.

So wird Verantwortung hin- und hergeschoben zwischen Bundesrat und Kantonsregierungen. Jeder beschwert sich über Unzulänglichkeiten des andern, anstatt vor der einen Tür zu kehren. So motzen Kantonsvertreter beispielsweise über die beschränkte Zahl verfügbarer Impfdosen, obwohl ihr Kanton bereits damit überfordert ist, die vorhandene Menge zu verabreichen. Der Bundesrat scheint mehr Zeit in einen PR-Plan investiert zu haben als in einen Impfplan. Und einzelne Parteien betreiben opportunistischen Stimmenfang anstatt zu konstruktiven Lösungen beizutragen.

Im Frühling war die offizielle Kommunikation, dass Masken nicht wirksam seien, um sich und andere vor dem Coronavirus zu schützen. Es ist zu vermuten, dass diese Linie gewählt wurde, weil nicht genügend Masken verfügbar waren. Hätte man Masken empfohlen, aber sie nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung gestellt, hätte man sich Kritik gefallen lassen müssen. War dies tatsächlich die Motivation, so wurden Befindlichkeiten einzelner Verantwortlicher über das Wohl, die Gesundheit, ja gar das Leben der Menschen in der Schweiz gestellt. Diese Falschinformation hat die breite Nutzung von Masken um Monate verzögert.

Wird auf mangelhafte Ergebnisse hingewiesen, betonen Politiker die vielen aufgebrachten Arbeitsstunden, auch wenn diese völlig falsch eingesetzt wurden. So prahlte zum Beispiel ein Regierungsrat damit, wie viele Schutzkonzepte seine Abteilung geprüft hätte. Dass viele dieser Konzepte nutzlos wären, selbst wenn sie eingehalten würden, wird dabei nicht beachtet. Was wirklich zählen sollte, ist, ob es uns gelingt, Fallzahlen zu senken und Impfzahlen zu steigern. Es gibt keine Bonuspunkte für wirkungslose Extraaufgaben.

Kommt hinzu, dass die aufwendig begutachteten Schutzkonzepte der Bevölkerung vorenthalten werden. Der Kanton Zürich will sie beispielsweise nicht rausrücken, weil “vertiefte Abklärungen zur Interessenswahrung notwendig” seien. Wie soll man sich an Schutzkonzepte halten können, deren Inhalte man nicht kennen darf? Zürich ist nicht der einzige Kanton mit mangelnder Transparenz. In Bern sind die Impfgruppen geheim. Die Initiative einer Privatperson war nötig, um anhand von Meldungen aus der Bevölkerung eine Übersicht der Gruppen zu erstellen. In beiden genannten Fällen scheint der Schutz der Behörden vor Kritik Vorrang zu geniessen gegenüber dem Schutz der Bevölkerung vor dem Virus.

Wenn wir aus monatelangen Lockdowns rauskommen wollen, müssen Entscheidungsträger ihr eigenes Ego und ihre Karriereambitionen in den Hintergrund rücken. Das sollte jetzt wirklich nicht die Priorität sein, während Tausende sterben und etliche mehr mit gesundheitlichen Langzeitfolgen und Existenzängsten zu kämpfen haben. Jetzt zählt es, gemeinsam diesen Herausforderungen zu begegnen. Wahlkampf können wir dann wieder früh genug betreiben.

* Ich verwende hier den Anglizismus “Lockdown”, weil er sich besser etabliert hat als andere wie “Shutdown”, obwohl “Shutdown” oder “Teil-Shutdown” für aktuelle Massnahmen eine genauere Beschreibung sein könnte. Ich nutze “Lockdown” grob als Sammelbegriff für Massnahmen, die das öffentliche Leben durch Schliessungen und Einschränkung der Bewegungsfreiheit beeinträchtigen.

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Opa Köbi
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Written by Opa Köbi

Ich mach mir halt so meine Gedanken. Aktuell zu COVID-19 und den Reaktionen insbesondere in der Schweiz. https://twitter.com/OpaKoebi

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